Liebe Leserinnen und Leser

Herbst, die Zeit der Ernte, die Zeit, in der das Jahr sich seinem Ende nähert. Vielleicht genau die Zeit des Jahres, zu der Geschichten wie die folgende passen, die mich erst an die Geschichte von „Momo“ von Michael Ende erinnerte, aber dann doch anders ist.

„Es war einmal ein Mann, der sich durch nichts von seinen Mitmenschen unterschied. Wie die meisten lebte er mehr oder weniger gedankenlos vor sich hin. Eines Tages aber sprach ihn ein Unbekannter an und fragte, ob er “Zeitgutscheine” wolle. Weil der Mann gerade nichts zu tun hatte und ohnehin eine gewisse Langeweile spürte, ließ er sich auf ein Gespräch ein und wollte wissen, was denn diese Zeitgutscheine seien. Statt einer Antwort zog der Unbekannte ein Bündel verschieden großer Scheine hervor, die wie Banknoten und doch ganz anders aussahen: “Deine Lebenszeit”, erklärte der geheimnisvolle Fremde kurz. “Wenn du alle Gutscheine angelegt hast, ist es Zeit zu sterben.”

Bevor der überraschte Mann eine Frage stellen konnte, war der andere verschwunden. Neugierig und erstaunt blätterte der Alleingelassene in dem Bündel. Zuerst kam ihm der Gedanke, die genaue Dauer seines Lebens zu errechnen, und ihn schauderte, als er die Zahl der Jahre und Tage vor sich hatte. Dann begann er eine Einteilung zu überlegen, und machte kleine Stöße von Scheinen entsprechend seinen Absichten. Zwar wollte er für Kegelabende und Fernsehen eine große Zahl von Stunden-Scheinen bereitlegen, musste aber zu seinem Bedauern bald feststellen, dass allein durch Essen und Schlafen eine unglaubliche Menge von vornherein gebunden war.

Tagelang war er damit beschäftigt, seine Zuwendungen an Lebenszeit immer neu zusammenzustellen, um sie bestmöglich zu nützen. Jedes Mal, wenn jemand ihn dabei störte oder gar etwas von ihm wollte, sah er im Geiste einen seiner kostbaren Scheine verlorengehen und sagte nein; seine Zeit hatte er nicht zu verschenken!

So wachte er eifersüchtig und geizig über die Gutscheine. Als ihm endlich eine perfekte Widmung der Stunden, Tage und Jahre gelungen zu sein schien, war plötzlich der Unbekannte wieder da: Ob er denn von Sinnen sei, fragte er, nahm einen der Scheine, drehte ihn um und hielt ihn dem erstaunten Mann vor die Augen. Zum ersten Mal entdeckte dieser einen Hinweis auf der Rückseite, dass die Zeitgutscheine in Ewigkeit umgewandelt werden können. Wer sie jedoch nicht in diesem Sinne umsetze, verspiele sein Leben.

Aber da war der Fremde auch schon wieder verschwunden und der Mann neuerlich allein mit einem erregenden Geheimnis – auf welche Weise war der begrenzte Schatz an Zeit in grenzenlose Ewigkeit zu verwandeln?…“

Die Frage nach dem Sinn des Lebens als eine kleine Geschichte, nach welchen Wertmaßstäben man seine Zeit verbringt. Denn eigentlich wissen wir es doch alle. Wenn ich einer Einladung oder Aufgabe eine Absage erteile mit den Worten: „Ich habe leider keine Zeit!“, so ist das nur eine Ausrede für: „Etwas anderes ist mir wichtiger und ich investiere meine Zeit dort!“

Jede/r von uns hat wohl mindestens zeitweise wohl diesen Sog erlebt, das eigene Leben möglichst perfekt gestalten zu wollen, alles rauszuholen. Die Corona-Pandemie hat das als Problem deutlich gemacht: Über 1 ½ Jahre konnte ich eine ganze Reihe von Aktivitäten nicht wahrnehmen, die mir eigentlich wichtig sind. Und wohl gerade jüngere Menschen hatten auch das Gefühl, ihnen sei Lebenszeit gestohlen worden. Studentinnen und Studenten, die das, was Studium eigentlich ausmacht, 3-4 Semester gar nicht erlebt haben, weil es nur digitales Studium von Zuhause gab, haben einen wichtigen Lebensabschnitt zu einem großen Teil verpasst. Aber auch sonst, was ist nicht alles an sozialen Kontakten in diesen Monaten der Pandemie auf der Strecke geblieben.

Und gleichzeitig habe ich die Zeit in meinem Gefühl noch nie so vorbeirasen sehen, wie in diesen letzten Jahren.  Eine Woche scheint nichts mehr zu sein, der Zeitdruck für die Abgabe der nächsten Ansprache wird gefühlt immer höher.

Der Wochenspruch für diese Woche ist ein altes Prophetenwort, das es auch schon bis zur Kirchentagslosung geschafft hat: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Micha 6,8)

Lebe in Beziehung zu Gott und Deinen Mitmenschen und zu Dir selbst! Und am schönsten finde ich die Formulierung „Liebe üben“, denn genau darum geht es, jeden Tag neu meine Zeit so nutzen, dass ich nicht um mich kreise, sondern sich Zeit verschiedener Menschen zu gemeinsamer, erfüllter Zeit verbindet.

Die Umwandlung von Zeitgutscheinen in Ewigkeit, ist nach unserem Wochenspruch eigentlich ganz einfach. Bei der Bemessung der Bedeutung der verschiedenen Aufgaben nicht einem der beiden Grundirrtümer verfallen:

  1. Zu meinen, meine Zeit ist so knapp, ich darf mich nicht um unbedeutende Dinge und Menschen kümmern, sondern muss immer meine Ziele im Auge behalten. Wenn meine Ziele keinen Ewigkeitscharakter haben, werden sie mit mir ins Grab gelegt werden.
  2. Dem Irrtum zu verfallen, ich hätte ja noch so viel Zeit und könne alles Mögliche auf später verschieben. Der einzige Zeitpunkt, an dem ich leben kann, ist jetzt und hier. Was morgen ist, das weiß ich nicht!

Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich auf dieser Welt noch habe. Aber jeder neue Tag ist ein Geschenk, das mir geschenkt wurde, um herauszubekommen, was der Wille Gottes für diesen Tag sein könnte, mit welchen Menschen ich heute üben könnte, wie das geht: einander zu lieben und dass ich nicht meinen muss, ich bräuchte eine bestimmte Summe an Zeitgutscheinen, um sie in Ewigkeit eintauschen zu können, und müsste nun knausern. Es ist einfach der Blickwinkel! Wie bei einer zweiten, sehr kurzen Geschichte, die gerade noch auf diese Seite passt: Die drei Arbeiter

Als man das Münster zu Freiburg baute, fragte man drei Steinmetzen nach ihrer Arbeit. Der eine saß und haute Quader zurecht für die Mauern der Wand. “Was machst du da?” “Ich haue Steine.”  Ein anderer mühte sich um das Rund einer kleinen Säule für das Blendwerk der Tür. “Was machst du da?” “Ich verdiene Geld für meine Familie.”

Ein dritter bückte sich über das Ornament einer Kreuzblume für den Fensterbogen, mit dem Meißel vorsichtig tastend. “Was machst du da?” “Ich baue am Dom.”

Vielleicht ist es so einfach: Sein eigenes Leben jeden Tag neu als Teil des Lebens selbst sehen, und sich von den Möglichkeiten beschenken lassen, selbst wenn manche Möglichkeiten einem auf den ersten, zweiten und dritten Blick nicht besonders gefallen.

Ihnen und Euch erfüllte Tage!

Ihr/Euer Pastor Schnoor