Liebe Leserinnen und Leser,

Mitten in der Woche der Buß- und Bettag, seit über 25 Jahren als staatlicher Feiertag abgeschafft, um damals das Startkapital für die Pflegeversicherung zusammen zu bekommen. Versuche, das zu verhindern, bekamen nicht genug Stimmen.

Das ist vielleicht auch kein Zufall, denn der Buß- und Bettag hatte es auch vorher nicht leicht, sondern das Image einer massiven Spaßbremse. Besonders der Buß-Teil klang nach kleinlicher Moral und ist den Menschen wohl auch zu lange in solcher Weise gepredigt worden.

Ich habe gerade in diesem Herbst den Eindruck, der Buß- und Bettag steht für etwas, das wir sehr dringend brauchen in unserer Gesellschaft: Zeit, darüber nachzudenken, was bei uns, aber vor allem auch bei mir selbst nicht so läuft, wie es eigentlich sollte. „Buße“ meint nichts als „Umkehr“, und hinter Umkehr steht eine Situation, in der ich merke, ich bin auf meinem Weg in eine Sackgasse geraten oder entferne mich von meinem Ziel. Wenn ich weiter will, wenn ich mein eigentliches Ziel erreichen will, dann muss ich wenden und so weit zurückfahren oder gehen, bis ich an eine Kreuzung komme, von der ab ich neu meinen Weg finden kann. Eigentlich doch ganz einfach, oder? In der Praxis oft aber nicht, wie eine kleine Geschichte verdeutlicht: Ein Mann sitzt im Bummelzug. Bei jeder Station steckt er den Kopf zum Fenster hinaus, liest den Ortsnamen und stöhnt. Nach vier oder fünf Stationen fragt ihn besorgt sein Gegenüber: “Tut Ihnen etwas weh? Sie stöhnen so entsetzlich.” Da antwortete er: “Eigentlich müsste ich aussteigen. Ich fahre in die falsche Richtung. Aber hier ist es so schön warm drin.”

Unsere eigene Bequemlichkeit steht uns manchmal sehr im Weg. Der Buß- und Bettag erinnert uns. Und er hat einige Texte, die uns ganz grundlegend erinnern und auch religionsübergreifend. Jesus sagt in Matthäus 7, 12, dem ersten Vers des diesjährig vorgeschlagenen Predigttextes: Behandelt andere Menschen genauso, wie ihr von ihnen behandelt werden wollt.

In der jüdischen Tradition gibt es etwa die folgende Geschichte:

Ein Mann kam zum berühmten Rabbi Schammai und sagte: “Ich will Jude werden, wenn du mir das Wichtigste der jüdischen Religion in der Zeitspanne sagen kannst, wie ich auf einem Fuß stehen kann.” Der Rabbi dachte an die fünf Bücher Mose und an all die jüdischen Auslegungen zu diesen Büchern, die angeben, was alles wichtig ist, um das Heil zu erlangen. Er musste zugeben, dass es ihm unmöglich sei, alles in ein paar Sätzen zusammenzufassen.

Darauf ging der Mann zur Konkurrenz, zu einem anderen berühmten Rabbi, zu Hillel, mit derselben Bitte. Der antwortete sofort: “, Was dir selbst widerwärtig ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an!’ Das ist das ganze Gesetz. Alles andere ist Auslegung!”

In anderen Religionen gibt es weitere Varianten mit immer derselben Aussage. Es scheint eine Erkenntnis zu sein, die uns Menschen eigentlich nahe liegt und einsichtig ist. Und zugleich fällt uns das oft so unsagbar schwer.

Gerade in diesem Jahr haben die Auseinandersetzungen für und gegen die Corona-Impfungen neue Schärfe gewonnen, und es wird fast nur noch schwarz-weiß gemalt. Und bei Masken ist es z.T. auch so. Es wird diesen Dingen eine so grundsätzliche Bedeutung beigemessen, dass der andere Mensch aus dem Blickfeld gerät. Es wird nicht mehr gefragt, wie möchte ich eigentlich behandelt werden, wenn ich eine ganz andere Meinung habe, sondern es ist weitgehend ein: „Du bist schuld daran, dass die Pandemie nicht aufhört!“ Ohne dich wäre die ganze Welt besser dran! Bzw. das ist alles eine große Lügengeschichte und der Staat oder dunkle Kräfte wollen irgendetwas Böses oder wir sind Versuchskaninchen für unausgereifte Impfstoffe usw. Das Spielchen spielt man wechselseitig gegeneinander, Impfgegner gegen Impfbefürworter bzw. „Querdenker“ gegen Staat“. Und man sieht die Anderen nur noch durch die Brille der Feinde, der Idioten, derjenigen, die die Wahrheit nicht sehen wollen.

Ich habe den Eindruck, dass dieses Denken übereinander auch unabhängig von Corona und Impfungen in vielen Bereichen um sich greift und das Miteinander vergiftet. Kein wirklicher Mensch wird mehr gesehen, sondern alles wird ideologisch so aufgeladen, bis anderen Menschen ein Recht abgesprochen wird, über bestimmte Themen zu sprechen (etwa „Rassismus“, „Frauen“, Migranten“ usw.). Natürlich hat die eigene Herkunft, das Alter, das Geschlecht usw. immer einen Einfluss darauf, wie ich bestimmte Themen sehe. Eine Frau wird es eher begrüßen, wenn der Einfluss von Frauen in der Gesellschaft zunimmt, ein Mann wird eher auch Angst davor haben, dass seine ganz persönlichen Möglichkeiten dadurch beschränkt werden. Aber grundsätzlich zu behaupten, dass bestimmte Gruppen keinerlei Recht haben, sich bei bestimmten Themen zu beteiligen, ist zu eng!

Der Ansatz „Behandelt andere Menschen genauso, wie ihr von ihnen behandelt werden wollt.“ des Buß- und Bettags erinnert uns daran, dass es immer mehre Ebenen gibt, die wir aneinander wahrnehmen können und sollen.

Natürlich bin ich ein „alter, weißer Mann“ und damit ideologisch so ziemlich das Schlimmste, was auf Gottes Erdboden herumläuft und sowieso für alle Negative auf diesem Erdball verantwortlich. Aber ich bin auch noch so einiges andere, das sich sehr viel weniger in die Kategorie Macht und Privilegien einordnen lässt und mich auch ausmacht und mir Erfahrungen geschenkt hat, ganz andere Menschen bis zu einem gewissen Punkt zu verstehen. Ich ende mit einer Geschichte, die vielleicht abseitig wirkt, für mich aber sehr viel mit dem zu tun hat, was Buß- und Bettag ist! „Was bleibt“:

1989 starb Zita, die letzte Kaiserin Österreichs, im Alter von 97 Jahren. Der prunkvolle Leichenzug mit den sterblichen Überresten der Frau, die sehr einfach und zurückgezogen gelebt hatte, erreichte das Kapuzinerkloster in Wien. Da klopfte der Zeremonienmeister an das Tor zur Kaisergruft der Habsburger.

Der Wächter fragte von innen: “Wer begehrt Einlass?” Der Zeremonienmeister: “Zita, die Kaiserin von Österreich, gekrönte Königin von Ungarn, Königin von Böhmen, Dalmatien, Kroatien… von Jerusalem; Erzherzogin von Österreich; Großherzogin der Toskana und von Krakau; Herzogin von Lothringen Salzburg …, Kärnten…; Großfürstin von Siebenbürgen, Markgräfin von Mähren; Herzogin von Ober- und Niederschlesien…; gefürstete Gräfin von Habsburg und Tirol…; Fürstin von Trient und Brixen; Markgräfin von Ober- und Niederlausitz…; Prinzessin von Portugal (insgesamt 54 Titel!) Der Wächter: “Kenne ich nicht!” –

Der Zeremonienmeister klopfte dreimal ans Tor. Der Wächter von innen: “Wer begehrt Einlass?” Der Zeremonienmeister: “Zita, Ihre Majestät, die Kaiserin und Königin!” Der Wächter: “Wir kennen sie nicht!”

Erneut klopfte der Zeremonienmeister dreimal. Der Wächter: “Wer begehrt Einlass?” Der Zeremonienmeister: “Zita, ein sterblicher, sündiger Mensch.” Der Wächter: “So komme sie herein.” Und die beiden hohen Tore der Flügeltüre öffneten sich gleichzeitig.

Ihr/Euer Pastor Schnoor, ein sterblicher, sündiger Mensch!