Liebe Leserinnen und Leser

Jahreslosung hatte ich schon in der Andacht der letzten Woche. Den Wochenspruch für diese Woche hatte in der Andacht vor genau einem Jahr, geht also auch nicht. Aber es gibt da noch etwas dazwischen, den Monatsspruch, und der lautet für Januar: Jesus Christus spricht: Kommt und seht!  (Johannes 1,39).

Wie geht es Euch und Ihnen damit? Mein erster Impuls: Nachsehen, in welchem Zusammenhang dieser Vers im Neuen Testament eigentlich steht, denn sonst könnte damit alles Mögliche gemeint sein, so allgemein klingt das erst einmal für mich.

Der Zusammenhang ist: Jesus findet seine ersten Jünger, und die stellen ihm die Frage, wo er wohnt. Und darauf gibt Jesus diese Antwort und lädt diese Menschen, die zu seinen Jüngern werden sollen, zu sich ein. Sie bleiben den Tag über und lernen so seine Lebensumstände und ihn näher kennen.

Anders als in den anderen drei Evangelien, bei denen die ersten Jünger nach einem herausragenden Fischfang unter eigentlich unmöglichen Voraussetzungen in spontaner Begeisterung ihre Boote verlassen, um Jesus zu folgen, wird hier erst einmal überprüft: Was ist das für einer, wo und wie wohnt er, wie lebt er, worauf lassen wir uns da eigentlich ein? Und einige Verse später sagt ein Jünger Jesu zu einem anderen, den er eingeladen hat, noch einmal die gleichen Worte: Komm und sieh! Schau selbst, ob das dein Weg ist, und renne nicht blindlings irgendjemandem hinterher! Hier trifft sich die christliche Überlieferung des Johannes mit einem Weisheitsspruch, der im Buddhismus dem Buddha zugesprochen wird: Glaube nichts, weil ein Weiser es gesagt hat. Glaube nichts, weil alle es glauben. Glaube nichts, weil es geschrieben steht. Glaube nichts, weil es als heilig gilt. Glaube nichts, weil ein anderer es glaubt. Glaube nur das, was Du selbst als wahr erkannt hast.

Es ist die zentrale Frage im Zusammenhang mit jeder Religion, jeder Philosophie, Ideologe, in Geschäftsfragen usw.: Überzeugt dich das? Kannst Du darauf vertrauen und dein Leben auf diesem Fundament errichten? Riskierst du, dich selbst oder mindestens etwas von dir in diese Person oder Sache zu investieren?

Und ich finde es eine weise Antwort Jesu, die der Monatsspruch da gibt. Er gibt nicht eine Zusammenfassung seiner Lehre, er verwickelt sie nicht in ein Werbegespräch, er lädt die Menschen dorthin ein, wo er selbst lebt. Also nicht Worte, sondern Teilhabe am eigenen Leben, damit hat Jesus seine ersten Jünger überzeugt, so dass sie nun ihrerseits andere Menschen einladen: „Wir haben den Messias gefunden“ (Johannes 1,41). Das kennen wir doch bis heute. Wenn mich Menschen durch ihre Art zu leben, überzeugen, ist die Chance deutlich größer, dass ich mich auch auf ihre Vorstellungen einlassen kann, dass ich diese Vorstellungen zumindest ernst nehme und überdenke, weil diese Menschen offensichtlich leben oder zu leben versuchen, was sie glauben. Das Umgekehrte kennen wir alle aber wahrscheinlich auch: Wenn ich bei jemandem sehr deutliche Unterschiede zwischen dem, was gesagt wir und dem wie gelebt wird, entdecke, dann bin ich deutlich weniger bereit, die theoretischen Vorstellungen dieser Menschen ernst zu nehmen. Paradebeispiele sind bei mir derzeit manche Querdenker, die mit ihrem Verhalten sich und andere Menschen gefährden und Fakten ignorieren, weil sie ihnen nicht in den Kram passen. Darum tue ich mich schwer, vielen von ihnen abzunehmen, dass es sich bei ihnen nicht um Egoismus, sondern um angebliche Sorge um die Freiheit und Gesundheit anderer Menschen dreht. Und manchmal rutsche ich schnell in die Schiene totaler Ablehnung, in die ich eigentlich möglichst nicht rutschen möchte, weil ich schwarz-weiß-Denken für nicht sehr sinnvoll halte – ich kenne zu viele Graustufen im Leben!

Kommt und seht!  Plappere nicht einfach etwas nach, sondern mache dir selbst ein eigenes Bild! Aber in unserer Zeit ist es auch ein schwieriger Grundsatz. Es kann sich in Deutschland ja der Eindruck aufdrängen, dass es bei uns nicht nur 80 Millionen Bundestrainer gibt, sondern seit Coronabeginn auch 80-Millionen Virologen, Epidemologen, kurz Fachleute zum Thema. Und jede und jeder hat eine Meinung und kritisiert den Rest.  Das ist – vorsichtig gesagt – nicht immer hilfreich!  Kommt und seht! Könnte in diesem Zusammenhang heißen: Schaut euch doch bitte einmal an, wie Naturwissenschaft und speziell Virologie und Epidemologie arbeiten. Da gibt es nicht absolute Wahrheiten und da gibt es nicht die Wissenschaft, die dies oder das als absolute Wahrheit verkündet! Naturwissenschaft arbeitet mit bestimmten Vorgehensweisen von Theorie und Experimenten, die diese Theorien widerlegen oder erhärten. Dafür gibt es allgemein anerkannte Standards, nach denen das passiert. Verschiedene Aussagen zu Fragen, die noch nicht endgültig geklärt sind, sind auch in den Naturwissenschaften völlig normal. Wenn man hier kommt und sieht, dann wird man vorsichtiger werden mit eigenen Urteilen und vielleicht aufhören, die Welt in schwarz und weiß einzuteilen, nur weil man mal irgendetwas gelesen hat!

Kommt und seht! Das ist ein Maßstab, der in der Wissenschaft wie beim Glauben immer wieder angelegt werden muss, um für mich zu überprüfen: Ist das noch das, was ich wirklich glaube, oder habe ich irgendwo eine falsche Abfahrt genommen und muss vielleicht ein Stück zurückfahren, um doch noch zum Ziel zu kommen! Nennt man in Kirchensprache auch Umkehr oder „Buße tun“!

Bei den Jüngern ist das genauso gewesen. Sie kamen nicht nur einmal und sahen, sie zogen mit Jesus durch das Land, und manchmal verstanden sie ihn – oder glaubten das – und dann wieder überraschte er sie und sie mussten umdenken. Mir hilft das sehr, dass die Jünger damals nicht als die Musterschüler dargestellt werden, sondern als Menschen, die sich auf einen Weg machen, einem Lehrer folgen, der sie überzeugt, aber auch immer wieder irritiert. Sie verstehen immer mal wieder etwas, und manchmal machen sie deutlich, an diesem Punkt muss Jesus mit ihnen noch mal ganz von vorne anfangen – also fast wie im richtigen Leben und bei mir! Aber das tut er dann auch, nicht zuletzt in der Jahreslosung: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Das geht aber nur, wenn ich die Erwartung ablege, alles müsse perfekt sein! Man beachte die Geschichte:

Zum weisen Einsiedler kam eines Tages ein junger Mensch und sagte, er sei von der Kirche enttäuscht und suche die vollkommene Gemeinschaft der Gläubigen. Da führte ihn der Alte zum Mauerwerk seiner kleinen Kapelle und fragte ihn: “Sag mir, was du siehst.” – “Ich sehe ein altes Gemäuer mit viel Unkraut und Moos”, entgegnete der Besucher. “Und doch wohnt Gott in diesem scheinbar ungepflegten Haus”, meinte der Einsiedler. “So ist es auch mit der Kirche. Sie kann nicht rein und perfekt sein, weil sie aus Menschen besteht. Auch du bist ein Mensch, und ich sage dir: selbst wenn du die vollkommene Kirche findest, wird sie es in dem Augenblick nicht mehr sein, in dem du ihr beitrittst.”

Also „kommt und seht!“ – und macht idealerweise mit, wenn es Euch anspricht!

Ihr/Euer Pastor Schnoor