„70“ so lautet der Name des Sonntags, den wir gerade hatten. 70 Tage vor Ostern. Stimmt nicht ganz, es sind nur 63 Tage! Irgendeine Woche muss da irgendwann verloren gegangen sein! Aber macht nichts, denn der Name wird ja auf Latein als „Septuagesimae“ wiedergegeben und klingt so viel edler – und die fehlende Woche fällt nicht auf!

Aber es ist ein Sonntag, der mit seinen Texten eine Art Kontrastprogramm zu unserer Normalität beschreibt. Da ist einmal die Lesung aus dem Evangelium, Matthäus 20, die bekannte Geschichte von den Arbeitern im Weinberg. Ihr erinnert Euch? Der Weinbergbesitzer, der morgens los geht, um Erntearbeiter einzustellen zu einem festen Tagessatz. Und den ganzen Tag über geht er immer wieder zum Markt, wo die Arbeitssuchenden stehen, und stellt neue Arbeiter ein, das letzte Mal eine Stunde vor Sonnenuntergang, also vor Arbeitsende. Dann wird der Tageslohn ausgezahlt, und alle bekommen gleich viel, den Betrag, den eine Familie benötigte, um zu leben. Die Arbeiter, die den ganzen Tag gearbeitet hatten, und nach ihnen sämtliche Gewerkschafter aller Zeiten haben sich über dieses Vorgehen des Weinbergbesitzers empört. Und in der Tat war der Stundenlohn der verschiedenen Gruppen äußerst ungleich! Der Maßstab war hier: „Alle bekommen so viel, wie sie zum Leben brauchen! Nicht mehr, aber auch nicht weniger – unabhängig von ihrer Leistung, und die Frühesten wussten, was sie bekommen würden!“ Ist das gerecht? Es ist jedenfalls sehr anders als unser gesellschaftliches Modell einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft! Klingt eher nach bedingungslosem Grund-einkommen, über dessen Sinnhaftigkeit man sich ja seit einigen Jahren streitet.

Und da wäre dann auch noch der Predigttext aus dem Buch des Propheten Jeremia:

Jeremia 9,22-23: „So spricht der HERR: Der Weise sei nicht stolz auf seine Weisheit. Der Starke sei nicht stolz auf seine Stärke und der Reiche nicht auf seinen Reichtum!

Wer sich rühmen will, soll sich nur deswegen rühmen: dass er wirklich klug ist und mich kennt. Dass er weiß, dass ich der HERR bin, der auf Erden Güte, Recht und Gerechtigkeit schafft. Denn diese machen mir Freude. – So lautet der Ausspruch des HERRN.“

Und wieder ein Kontrastprogramm zum Denken unserer Zeit, wie ich es bei anderen Menschen und auch bei mir immer wieder wahrnehme. Denn natürlich sind wir alle bemüht, uns mit unseren Fähigkeiten im möglichst besten Licht darzustellen bis hin zu „Mehr Schein als Sein!“. Wieviel Zeit, Energie und zum Teil auch Geld investieren Menschen in ihren Körper, um ihn zu perfektionieren? Privatjachten werden so groß gebaut, dass sie nicht mehr unter Hochbrücken durchkommen, nur um zu zeigen, wie reich der Besitzer ist, und manche Titel werden immer noch gekauft, nur um sich damit schmücken zu können! Ach ja, Autos und Motorräder dienen natürlich auch nicht nur dazu, von Punkt A nach Punkt B zu kommen! Die Älteren erinnern sich noch an eine Werbung mit den Fotos von Auto, Haus und irgendetwas Drittem, die auf den Tisch gelegt werden, um zu zeigen, wie weit man es gebracht hat, und das Gegenüber kontert mit noch größeren Dingen.

Natürlich wissen wir, unser Leben bezieht seinen Wert aus anderen Quellen als dem Preis dessen, was wir besitzen oder unserer Bildung oder Körperkraft. Aber sie beeinflussen uns dennoch, und wenn wir etwas geleistet haben, sind wir stolz darauf. Es stärkt unser Selbstwertgefühl. Ich habe es zu etwas gebracht!

Warum soll ich nicht stolz darauf sein? Was meint Jeremia mit seinem Gottesspruch?

Wer sich rühmen will, soll sich nur deswegen rühmen: dass er wirklich klug ist und mich kennt. Dass er weiß, dass ich der HERR bin, der auf Erden Güte, Recht und Gerechtigkeit schafft. Denn diese machen mir Freude.“

„Sich rühmen“ ist einerseits, auf etwas stolz sein, aber auch, sich auf das zu verlassen, worauf man stolz ist. Wenn wir das tun, laufen wir Menschen leicht in die Falle der Selbstverkrümmung. Wir sehen die eigene Leistung als Basis unseres Lebens und vergessen dabei, wieviel wir anderen Menschen, der Gesellschaft oder dem verdanken, was wir sonst Zufall nennen, um dorthin zu kommen, wohin wir gekommen sind. Wir haben es nicht gemacht, dass wir zu dieser Zeit an jedem Ort in genau diese Familie hineingeboren wurden, ganz bestimmte ErzieherInnen und LehrerInnen hatten, zu bestimmten Zeitpunkten bestimmte Chancen erhielten und Menschen an unserer Seite hatten, die uns unterstützten, Mut machten oder vor Fehlern bewahrten. Ich könnte diese Aufzählung munter fortsetzen. Den größten Teil unseres Lebens haben wir nicht  selbst, jedenfalls nicht allein geschaffen, wir leben von dem, was uns geschenkt wurde!

Und dann erinnert Jeremia noch an Gott, den Schöpfer, und dass wahre Klugheit darin besteht, zu erkennen, dass Gott auf Erden Güte, Recht und Gerechtigkeit schafft. Und dass diese Größen Gott Freude machen und für den Lebenssinn zentral sind, weil sie sich eben nicht um mich drehen oder um Dich, sondern um uns alle! Darum zum Schluss noch eine kleine Geschichte – nicht aus der Bibel, sondern aus unserer Zeit.

Erste Hilfe

Einmal stand Herr Stolze vor dem Haus und zog aus Leibeskräften an einem Seil. “Kann ich Ihnen helfen?” fragte einer; der zufällig vorbeikam. “Nein, danke! Es geht schon allein”, sagte Herr Stolze und verzog sich.

Einmal stand Herr Stolze mitten in einer fremden Stadt und blätterte im Stadtplan. “Kann ich Ihnen helfen?” fragte eine ortskundige Dame. “Nein, danke! Es geht schon allein”, sagte Herr Stolze und ging seinen Weg.

Einmal stand Herr Stolze bis zum Hals im Wasser und machte einen recht begossenen Eindruck. “Kann ich Ihnen helfen?” rief ein Schiffer von seinem Kahn. “Nein, danke! Es geht schon allein”, sagte Herr Stolze und schwamm aufs Trockene.

Einmal stand Herr Stolze oben auf einer Leiter und hatte zwei Pakete in den Händen und eine Tasche an den Arm gehängt. “Kann ich Ihnen helfen?” fragte ein Nachbar; “Nein, danke! Es geht schon allein”, sagte Herr Stolze und fiel von der Leiter.

Als Herr Stolze aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ging er am Stock. Als der Linienbus kam, fasst ihn ein freundlicher Herr unter und half ihm hinein. “Danke!” sagte Herr Stolze, “es geht schwer so allein”. Und er unterhielt sich während ihrer Fahrt ein wenig mit dem freundlichen Herrn. “Bitte!” sagte Herr Stolze, als er aussteigen musste, “darf ich Ihre Hilfe noch einmal in Anspruch nehmen?”

Was für ein Lernfortschritt! Davon wünsche ich Ihnen und Euch – und mir! – ganz viel für die kommende Woche und darüber hinaus, allerdings ohne Absturz und Krankenhaus!

Bleibt behütet!

Ihr/Euer Pastor Schnoor