Liebe Leserinnen und Leser

Am vergangenen Sonntag (Sexagesimae = „60“!) war das „Wort Gottes“ Thema, das ausgesät wird, wie beim Gleichnis vom Sämann, bei dem einiges auf den Weg fällt, einiges vertrocknet, einiges zwischen die Dornen, aber einiges auch auf fruchtbaren Boden und aufgeht und Ertrag bringt, so dass sich die Arbeit gelohnt hat und am Ende mehr Körner da sind als vorher. In einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft war das die Grundlage dafür, dass das Leben weiter geht!

 Die Wirksamkeit des göttlichen Wortes wird auch in der alttestamentlichen Lesung aus Jesaja 55,10-11 betont: „Regen oder Schnee fällt vom Himmel und kehrt nicht dahin zurück, ohne die Erde zu befeuchten. So lässt er die Pflanzen keimen und wachsen. Er versorgt den Sämann mit Samen und die Menschen mit Brot. So ist es auch mit dem Wort, das von mir ausgeht: Es kehrt nicht wirkungslos zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will. Was ich ihm aufgetragen habe, gelingt ihm.“ Auch hier sind die Bilder, mit denen Gottes Wort verglichen wird, Prozesse aus der Natur, die dafür sorgen, dass Lebensgrundlagen weiter verfügbar sind.

Der Predigttext vom Sonntag aus Hebräer 4,12-13 hingegen bedient sich sperrigerer Bilder:

„Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam. Es ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch und durch. Es durchdringt Seele und Geist, Mark und Bein. Es urteilt über die Gedanken und die Einstellung des Herzens. Kein Geschöpf bleibt vor Gott verborgen. Nackt und bloß liegt alles offen vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schuldig sind.“

Das klingt erst einmal nicht lebensfördernd. Ein zweischneidiges Schwert gehörte zur Ausrüstung eines römischen Legionärs, ein Kurzschwert für den Nahkampf. Von so einem Schwert durchbohrt zu werden, verletzt oder bringt den Tod.

Und so soll das Wort Gottes sein?

Nein! Denn der Vergleichspunkt ist nicht das Schwert, sondern die Schärfe! Würde man heute einen Vergleichsgegenstand suchen, so wäre es eher das Skalpell, also ein Instrument, um exakte feine Schnitte bei einer Operation auszuführen, um einem Menschen zu helfen. Wenn es etwa darum geht, einen Tumor zu entfernen, dann ist es wichtig, dass „alles nackt und bloß vor den Augen des Operateurs liegt, damit der ganze Tumor entfernt wird, und kein betroffenes Gewebe übrig bleibt, von dem der Krebs wieder ausbrechen kann.

Das Wort Gottes als Skalpell, um an Tumore in meinem Leben heranzukommen und sie zu beseitigen, damit Leben in guter Weise weiter möglich ist oder wieder möglich wird. So könnte man den Aspekt dieses Textes auf das „Wort Gottes“ zusammenfassen.

Was genau ist aber nun eigentlich das „Wort Gottes“, von dem hier dauernd die Rede ist?

Manche Menschen sagen: Das was in der Bibel steht, ist Wort Gottes! Das finde ich zu einfach und ungenau. Wenn ich etwa 3. Mose 16,26 im Zusammenhang mit dem großen Versöhnungstag (Jom Kippur), dem höchsten jüdischen Fest lese: „Der Mann, der den Sündenbock weggetrieben hat, soll sich selbst und seine Kleider waschen. Erst danach darf er das Lager wieder betreten.“ Dann ist das eine rituelle Anweisung aus alten Zeiten, die mit dem heutigen Leben erst einmal nichts zu tu hat, weil es diesen Brauch bei uns überhaupt nicht gibt. Ich fände es befremdlich, davon auszugehen, dass Gottes Wort veraltet! Also ist nicht jeder Bibelvers automatisch Wort Gottes „für mich“!

Dafür, dass ein Bibeltext Gottes Wort „für mich“ wird, muss etwas anderes hinzukommen. Dieser Text muss mich in meinem Leben betreffen, als eine Sicht von außen, die mein Denken, Reden und Handeln in Frage stellt! Und das kann einmal als ganz grundsätzliche Änderung meiner Einstellung zum Leben durch ein Ereignis oder Gespräche mit Menschen oder Lesen in der Bibel oder Begegnungen, Träume, Krankheiten oder sonst etwas sein. In der Tradition hat man dann oft von „Bekehrung“ gesprochen, etwa bei Paulus, der durch eine Vision des auferstandenen Christus vom Christenverfolger zum Christen wurde oder bei vielen anderen Menschen in der Geschichte, die eine radikale Kehrtwendung nach einem besonderen Ereignis vollzogen.

Aber auch im alltäglichen Bereich kann mich etwas treffen, das mein Leben an einem Punkt ändert, dass mich etwas von außen erreicht und anspricht, und ich bemerke, was falsch läuft bei mir, oder aber ich merke, ich bin mehr und ich kann mehr, als ich mir bisher zugetraut habe. „Finetuning“ würde man es bei Maschinen nennen, also genauere Feineinstellung, damit die Maschine besser funktioniert. Wir sind keine Maschinen, die funktionieren sollen, aber Feineinstellung tut uns oft auch gut. Und wo das geschieht und das Leben besser macht, da ereignet sich für mich „Wort Gottes“. So etwa in der Geschichte eines alten ägyptischen Wüstenvaters, der seine „Bekehrung“ ja schon hatte.

Der Traum des Wüstenvaters

Elipandus war als Sohn reicher Eltern Mittelpunkt vieler Feste. Aber sein Suchen nach Wahrheit und nach dem Frieden des Herzens stillte erst der Glauben an Jesus Christus. Nach langem Aufenthalt in der Einsamkeit verteilte er sein Vermögen an die Armen und zog in die Wüste. Das harte Einsiedlerleben in Fasten und Selbstbeherrschung ließ ihn heranreifen.

Eines Tages verirrte sich ein Kamelreiter zu ihm. Der Fremde gewann Vertrauen durch die freundliche Aufnahme und schüttete ihm schließlich sein Herz aus. Elipandus blieb stumm und hörte zu. Zuletzt umarmt er ihn, gab ihm den Friedenskuss und segnete ihn.

Der Kamelreiter erzählte überall von seinem frohen Erlebnis. Bald kamen die Menschen von allen Seiten mit Fragen und Ängsten, mit Leid und Schuld. Er hörte sie alle in seiner Güte an, ohne sie zu tadeln oder zu verurteilen; ohne störende Fragen zu stellen. Und wenn sie ihn verließen, atmeten sie befreit und glücklich auf. So hörte und hörte er allen jahrelang in nie versiegender Güte zu.

Eines Tages aber überkamen ihn innere Unruhe und Zweifel: War er nicht zu gütig? Sollte er die Menschen nicht mit Strenge aufrütteln? Schließlich glaubte er, alles falsch gemacht zu haben. Er floh in die Wüste und sank vor Ermüdung in einen tiefen Schlaf.

Im Traum sah er einen Weinstock mit köstlichen Trauben – mitten in der Wüste. Und von allen Seiten kamen die Wanderer, nahmen von den saftigen Beeren und zogen mit Dank und Freude im Herzen weiter. Und ihm war, als hörte er eine Stimme sprechen: “Du, Elipandus, bist der Weinstock. Kehre zurück zur Felsenhöhle. Schenke den Menschen weiter deine Güte. So wirst du zum Spiegelbild deines Meisters, der gesagt hat: ,Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und unter Lasten stöhnt! Ich werde euch Ruhe verschaffen!’ (Mt 11,28)” Da kehrte er sofort froh und dankbar zur Höhle zurück, vor der schon viele Menschen auf sein gütiges Hören warteten.

Bleibt behütet und mögen Sie, Euch – und mich! – gute, lebensspendende Worte Gottes erreichen, selbst wenn sie manchmal alles andere als bequem sind!

Ihr/Euer Pastor Schnoor