Liebe Leserinnen und Leser
Wie oft beten Sie, betet Ihr täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich? Ich könnte das für mich gar nicht so genau sagen. Zum einen ist es unterschiedlich oft der Fall und zum anderen stellt sich die Frage, was ich eigentlich wirklich als Gebet zählen kann?!
Sie wundern sich/ Ihr wundert Euch, dass das eine Frage ist? Ist doch eigentlich klar, was ein Gebet ist! Ich stehe oder sitze, falte die Hände, schließe dabei wahlweise die Augen oder lasse sie auch offen und rede mit Gott! Aber zählt im Bett oder auf der Couch liegen auch? Und wie ist es ohne gefaltete Hände? Auch das Verfassen von Gebetstexten für den Gottesdienst ist schwierig. Ist es eigentlich schon ein Gebet, wenn ich mir Gedanken dazu mache oder erst, wenn ich den Text in der Kirche als Vorbeter lese? Und dann sind da noch die völlig „formfreien“ Situationen, wenn ich mich etwa über einen wunderbaren Morgen freue und halblaut etwas wie „Ist das schön!“ sage, und ich bin allein und meine es auch als Dank an den Schöpfer. Oder es passiert etwas weniger Schönes und ich denke oder sage: „Muss das jetzt unbedingt sein?“ oder ähnlich, leicht vorwurfsvoll, aber meist kriege ich mich auch schnell wieder ein und bitte um Verzeihung, weil ich genau weiß, dass mein Vorwurf in Richtung Gottes ging. Auch ein Gebet? Ich denke JA.
Hingegen bin ich bei den Tischgebeten manchmal nicht sicher, ob das wirklich noch Gebete sind. Das liegt nicht daran, dass wir in der Familie meist zwischen zwei Tischgebeten variieren, sondern daran, dass ich den Text manchmal ziemlich automatisch spreche und gefühlsmäßig eigentlich ganz woanders bin. Dann ist es kein Gebet mehr, sondern nur noch ein Text, den ich auswendig sprechen kann, ohne mir groß Gedanken zu machen, was ich da eigentlich sage.
Mir fällt, wenn ich darüber nachdenke und schreibe ein Abschnitt aus der Bergpredigt Jesu ein, in dem zum Gebet gesagt wird, wie man gerade nicht beten soll: Matthäus 6,5-8:
5 »Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Scheinheiligen: Sie stellen sich zum Beten gerne in die Synagogen und an die Straßenecken – damit die Leute sie sehen können. Amen, das sage ich euch: Sie haben damit ihren Lohn schon bekommen.
6 Wenn du betest, geh in dein Zimmer und schließ die Tür. Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen.
7 Sprecht eure Gebete nicht gedankenlos vor euch hin wie die Heiden! Denn sie meinen, ihr Gebet wird erhört, weil sie viele Worte machen.
8 Macht es nicht so wie sie! Denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch bevor ihr ihn darum bittet.
Hier geht es nur um das Gebet des/der Einzelnen. Ich lasse also mal die Frage nach dem gemeinsamen Gebet im Gottesdienst aus. Und wenn ich mir den Text so betrachte, dann merke ich, wie sehr es sich doch seit damals verändert hat, denn zur Zeit Jesu war privates Beten in eigenen Privaträumen sehr ungewöhnlich. Gebet war eine überwiegend öffentliche Angelegenheit. Man ging in einen Tempel, um zu beten! Jesus sagt: Das ist nicht notwendig. Gebet ist eine Zwiesprache mit Gott, die überall stattfinden kann. Das haben wir in den vergangenen 2000 Jahren doch gut verinnerlicht!
Nicht ganz ausgerottet ist hingegen die Vorstellung, man müsse „viele Worte machen“ beim Gebet. Jedenfalls habe ich das in meiner Jugend in so manchen Gebetskreisen so erlebt, wo z.T. sehr detailreich Bitten vor Gott gebracht wurden, so als müsste man ihm erklären, worum es eigentlich geht! Aber: Euer Vater weiß, was ihr braucht, noch bevor ihr ihn darum bittet.
Gott braucht also unsere Gebete nicht, jedenfalls nicht als nötige Information, aber Gott will Gebet als Mittel der Beziehung, und wir brauchen Gebet zur Klärung unserer Vorstellungen und Wünsche, unserer Wahrnehmung der Welt und der anderen Menschen. Vielleicht ist es dabei gar nicht so wichtig, was wir im Einzelnen sagen oder worum wir bitten, sondern wichtiger noch, für wen wir nicht beten und worum nicht bitten. Denn das sagt eine Menge über unser Bild von Gott aus und über unseren Glauben.
Der Heilige Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153), einer der bedeutendsten Mönchs-theologen des Mittelalters, hat über das Gebet einmal das Folgende geschrieben:
Es gibt vier Stufen des Gebets, je nach der Gesinnung des Menschen. Zuerst betet der Anfänger, aus der Schlinge böser Gewohnheiten befreit zu werden. Dann wird er mutig und bittet um die Vergebung der Sünden. Nach der Vergebung gewinnt er neue Zuversicht und erbittet von Gott die Kraft zu einem guten Leben. Jetzt betet er auch für die anderen. Schließlich wird er so vertraut mit Gott, dass er bei jedem Gebetsanliegen eher danksagt als bittet. – Das erste Gebet wird in der Gesinnung der Scham dargebracht. Solange einer nämlich an seine schlechte Gewohnheit gebunden ist und oft in die früheren Sünden zurückfällt, schämt er sich und wagt es nicht, vor Gottes Augen zu treten. Er tritt lieber mit der Frau des Evangeliums von hinten heran und berührt den Saum des Gewandes Jesu (vgl. Matthäusevangelium 9,20). – Das zweite Gebet wird in der Gesinnung der Lauterkeit dargebracht. Gereinigt von der schlechten Gewohnheit, ist im Geist des Betenden keine Unaufrichtigkeit mehr. Er legt ein Bekenntnis ab und entblößt die ganze Wunde vor dem Arzt, um geheilt zu werden. – Das dritte Gebet wird in der Gesinnung der Weite dargebracht. Im Lauf der Zeit weitet sich nämlich das Beten, und der Mensch betet für sich und die anderen. – Das vierte Gebet wird in der Gesinnung der Hingabe dargebracht. Nun vertraut der Mensch in seiner großen Liebe zu Gott, dass ihm das gehört, worum er früher gebetet hat. Darum beginnt er mit der Danksagung, wie auch Jesus, der Herr, sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich immer erhörst! (Johannes 11,41 f).
Bei Matthäus sind die Gedanken zum Gebet und wie man nicht beten soll die Einleitung zum Vaterunser als dem „Mustergebet“, das Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern mitgibt. Wir kennen es manchmal zu gut, zu auswendig, so dass wir es aufsagen und nicht beten. Ich habe schon so viele unterschiedliche Sichtweisen mit diesem Gebet erlebt, je nachdem, in welchem Zusammenhang ich es gebetet habe.
Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.
10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
11 Unser tägliches Brot gib uns heute.
12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
[Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]
Manchmal ist es wichtiger, zu hören, was Gott mir heute mit diesem Gebet sagen will, wen ich zu dem „uns“ und „wir“ zählte und wen noch nicht.
Einen wunderbaren restlichen Mai und klärende Gebete!
Ihr/Euer Pastor Schnoor