Liebe Leserinnen und Leser

Die Meisten von Ihnen und Euch, die diese Wochenandachten schon länger lesen, werden es mitbekommen haben – ich arbeite gerne mit Material, das ich finde, wenn es mir gefällt und zu dem Thema passt, mit dem ich mich gerade beschäftige. Das können Bilder, Geschichten oder auch – hoffentlich nicht zu oft – ganze Texte von Anderen sein, die mir zu einem Thema über den Weg liefen und die ich wirklich gut fand.

Dieses Mal ist es, wohl das erste Mal, dass ich über einen Text zu meinem Thema für diese Woche gekommen bin!

Ich bekomme jeweils mittwochs eine Mail mit einer aktuellen Andacht von einem Verlag, bei dem ich andere Materialien abonniert habe. Bisher habe ich diese Mails kaum verwendet, sie passten thematisch gerade nicht. Bei dem Text vom 31. Mai war es anders. Und so kommt jetzt ein Text zum Thema „Kampf um die Wahrheit“ von Michael Becker aus „Werkstatt Spezial“ des Verlags Bergmoser und Höller.

Zwei plus zwei ist …

1

Vor einigen Tagen erzählte mir ein Bekannter, er habe jetzt noch einmal den Roman „1984“ von George Orwell gelesen. Erschienen ist das Buch zum ersten Mal im Jahre 1949.

Orwell erzählt in „1984“ von einer Welt, in der nur noch „die Partei“ herrscht und ein nicht weiter bekannter „großer Bruder“. Diese überwachen jeden Schritt im Leben und im Denken aller Menschen. Der Held des Buches, ein gewisser Winston, arbeitet auch für die Partei im „Ministerium für Wahrheit“. Dort verdreht und fälscht er die Weltgeschichte so, wie es der Partei gerade nützt. Aber tief im Herzen ist er unzufrieden und schreibt heimlich ein Tagebuch. Außerdem verliebt er sich in Julia, was strengstens verboten ist. Beide wollen das System unterwandern, werden aber verraten und verhaftet.

In sein Tagebuch hatte Winston kurz zuvor noch geschrieben:

Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ergibt. Wenn das gilt, folgt alles Übrige von selbst.

Aber unter der Folter stimmt er dann der „ungeheuren Macht“ des Systems zu und gesteht, dass zwei plus zwei natürlich fünf ergeben.

2

Der Roman erzählt von der Fälschung der Wahrheit, indem die Sprache neu erfunden wird. Sie heißt jetzt „Neusprech“ und sagt: „Krieg ist Frieden“, oder: „Freiheit ist Sklaverei“. Die Folterlager heißen „Lustlager“. In den Köpfen aller Menschen soll die Wahrheit so lange verdreht werden, bis die Lügen geglaubt und für wahr gehalten werden.

Es ist offensichtlich, erzählte mein Bekannter, dass wir in vielen Ländern der Erde schon genau dort angekommen sind, wovon der Roman erzählt. In Russland verkauft sich das Buch gerade rasant. In Belarus ist der Roman gerade verboten worden.

3

Manchmal muss man für die Wahrheit kämpfen. Herrschende versuchen überall, ihre Meinungen und Absichten zu allgemein gültigen Wahrheiten zu erheben, an denen kein Zweifel erlaubt ist. Dies geschieht auch mit Mitteln der Gewalt wie in Russland.

Wahrheit, für die man kämpft, hat man nicht wie einen Besitz. Man muss für sie streiten und auch sich selber infrage stellen. Wir haben in unserem Land das Glück der Meinungs- und der Pressefreiheit. Wir können uns also Meinungen bilden. Das sollten wir auch – niemand ist einfach so wahr oder „hat“ die Wahrheit; wir alle müssen uns und unsere Ansichten selbst überprüfen und überprüfen lassen.

Glauben wir also möglichst nie, Wahrheit zu besitzen. Aber streben wir nach ihr. Und bitten wir Gott um Hilfe, wenn wir unsicher sind. Das kleine Gebet aus Psalm 43 (Vers 3, auch EG 172) möge uns dabei in allen Lebenslagen helfen:

„(Gott), Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie uns leiten.“

„1984“ gehörte zu meiner Schulzeit zum Lektürekanon. Wer es nicht im Unterricht las, las stattdessen meist „Animal-Farm/Farm der Tiere“ vom gleichen Autor. Beide Bücher waren eine Kritik an totalitären Gesellschaften, und in den 70er und frühen 80er Jahren waren das die kommunistischen Staaten hinter dem „Eisernen Vorhang“ Es waren „die Anderen“, die die Wahrheit unterdrückten. Den „Ostblock“ gibt es nicht mehr, das „Neusprech“ aus 1984 nennt man mittlerweile „fake News“ oder „alternative Fakten“ – und wir haben in den letzten Jahren immer mehr erlebt, wie schwer es oft fällt, Wahrheit und Lüge/Täuschung/Selbsttäuschung auseinanderzuhalten. Wohin das führen kann, haben wir seit über 2 Jahren zum Thema „Corona“ erfahren und erfahren es derzeit im Umfeld des Kriegs in der Ukraine. Denn das einzige Sichere scheint mir derzeit, dass Putin die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen hat. Über alles andere gibt es praktisch nur Aussagen, die nicht neutral überprüft werden können!

Am Sonntag feiern wir das Pfingstfest, das Fest der „Ausschüttung des Heiligen Geistes“ und der Geburtsstunde von Kirche. So sehr der Autor des Textes oben Recht hat, dass auch wir nie im Besitz der Wahrheit sind, sondern immer nur danach streben, so glauben wir als ChristInnen doch mit dem Heiligen Geist an eine Kraft, die uns der Wahrheit näherbringt. Grundlagen dafür sind nach den Überlieferungen im Neuen Testament das Leben Jesu mit seinen Worten und Taten und der Maßstab der Liebe. Das legt nahe, dass „Wahrheit“ weniger eine theoretisch-allgemeine Größe ist, sondern uns immer auf konkrete Situationen hin gestellt wird. Es gibt die Abkürzung WWJD (= What Would Jesus Do? = Was würde Jesus tun?) als Aufdruck auf Armbändern, vor einigen Jahren sehr beliebt bei Jugendlichen, die darauf abzielt und deren deutsche Variante ursprünglich wohl von Martin Niemöller stammt. Ein guter Hinweis, aber Jesus hatte es eher nicht mit der Frage zu tun, ob schwere Waffen an einen Angegriffenen zu liefern richtig sei. Alle Antworten auf die Fragen unserer Zeit gibt uns die Bibel denn doch nicht so leicht. Obwohl, die „Goldene Regel“, die Jesus und das Christentum nicht exklusiv haben, könnte ein positiver Hinweis zur Entscheidung sein: „Behandelt andere Menschen genauso, wie ihr selbst behandelt werden wollt.“ (Matthäus 7,12). Dies und die Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes – und die Bitte darum! – wäre doch schon mal ein wunderbares Programm für das Pfingstfest (außer allem anderen, was wir Deutschen da so treiben!)

Ihr/Euer Pastor Schnoor