Liebe Leserinnen und Leser
„Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“(Galater 6,2) So lautet der bekannteste Vers aus dem Predigttext für diese Woche am 15. Sonntag nach Trinitatis. Das Thema des Sonntags ist „die Sorge“ und die Evangelium-Lesung Jesu Gleichnis aus der Bergpredigt über die Vögel und die Wildblumen als Vorbild, sich keine Sorgen um die Zukunft zu machen.
Diese Thematik kommt hinein in eine Zeit, in der das Sorgen allgegenwärtig ist. Der Krieg in der Ukraine und Putins Drohungen mit Atomwaffen, eine mögliche Gasknappheit im Winter und die hohen Preise, überhaupt die Inflation und der Preisanstieg bei so vielem. Von der drohenden Klimakatastrophe gar nicht zu reden. Praktisch jeden Tag bombardieren uns die Medien mit diesen Themen. Ach ja, nicht zu vergessen, die nächste Corona-Welle steht vor der Tür! Versteht mich nicht falsch! All das sind sehr ernsthafte Probleme, die unser Leben beeinträchtigen und gefährden können und nicht auf die leichte Schulter zu nehmen!
Die Aussagen von Jesu Gleichnis, dass die Vögel keine Vorratswirtschaft betreiben und die Feldblumen nicht extra Bekleidung herstellen, und beide trotzdem leben und Schönheit ausstrahlen, meinen nicht, dass wir Menschen keine Nahrung und Kleidung (und all die anderen Dinge, um die unser Leben so kreist) benötigen. Jesus verweist ausdrücklich darauf: Um all diese Dinge dreht sich das Leben der Heiden. Euer Vater im Himmel weiß doch, dass ihr das alles braucht. (Matthäus 6,32)
Aber Jesus macht auch deutlich, dass unser Leben immer mehr ist als Essen und Kleidung usw. und wir uns von den Sorgen darum nicht bestimmen lassen sollen: Wer von euch kann dadurch, dass er sich Sorgen macht, sein Leben nur um eine Stunde verlängern? (Matthäus 6,27)
Was Jesus allerdings meint und was für uns Heutige m.E. eine sehr wichtige Erinnerung darstellt: Seid nicht so sehr damit beschäftigt, Euch Sorgen um etwas zu machen, was in der Zukunft liegt, dass Ihr Euer Leben im Hier und Heute verpasst! Es geht also nicht im Kern um die Frage von Vorsorge, sondern um die Frage, ob ich mein Leben vom Vertrauen auf Gott prägen lasse oder von der Angst vor dem, was passieren könnte! Dazu eine kleine Geschichte:
Eines Nachts brach in einem Haus ein Brand aus. Während die Flammen hervorschießen, stürzen Eltern und Kinder aus dem Haus. Entsetzt sehen sie dem Schauspiel dieses Brandes zu.
Plötzlich bemerken sie, dass der Jüngste fehlt, ein fünfjähriger Junge, der sich im Augenblick der Flucht vor Rauch und Flammen fürchtete und in den oberen Stock kletterte. Man schaut einander an. Keine Möglichkeit, sich in etwas hineinzuwagen, das immer mehr zu einem Glutofen wird. Da öffnet sich oben ein Fenster. Das Kind ruft um Hilfe. Sein Vater sieht es und schreit ihm zu: “Spring!”
Das Kind sieht nur Rauch und Flammen. Es hört aber die Stimme des Vaters und antwortet: “Vater, ich sehe dich nicht!” Der Vater ruft ihm zu: “Aber ich sehe dich, und das genügt, spring!” Das Kind sprang und fand sich heil und gesund in den Armen seines Vaters, der es aufgefangen hatte. (Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten Bd.1, Nr. 91)
Diese Geschichte handelt von Vertrauen, das konkretes sachorientiertes Handeln ermöglicht. Das Kind vertraut den Worten des Vaters: Ich sehe dich, das genügt. Spring! Der Vater vertraut darauf, dass er in der Lage sein wird, das Kind aufzufangen. Und das Vertrauen erweist sich als begründet. Aber auch das Thema Sorge/Mangel an Vertrauen ist angesprochen. Das Kind ruft: Ich sehe dich nicht! Er muss also blind springen und tut es auf die Aussage des Vaters. Hätten sich die beiden Menschen von der Sorge bestimmen lassen, hätte der Vater den eigenen Fähigkeiten nicht getraut und das Kind wäre wegen des nicht vorhandenen Sichtkontakts nicht gesprungen, dann wäre die Katastrophe eingetreten und das Kind wäre gestorben. Es hätte natürlich auch beim Sprung sterben können. Ist es aber nicht!
Der Kern von Glaube/Vertrauen, wie ihn Jesus versteht, basiert auf mehr als den eigenen Vorstellungen, er basiert auf der Geschichte Gottes mit seinem Volk, seinen Menschen, wie die Bibel sie überliefert, und auf dem Verständnis, das Jesus von Gott hat: Gott ist wie Eltern für ein kleines Kind: Ich als kleines Kind bin abhängig von meinen Eltern und vertraue darauf, dass sie es gut mit mir meinen. Mein Überleben hängt davon ab. Das meint es, wenn Jesus von Gott als „Abba“ (= Papa!) spricht. Und von dieser Grundbeziehung, die mich leben lässt baut Jesus dann auch das Verhältnis zu den Mitmenschen auf: Ich bin Gott wichtig, wie ein Kind seinen („guten“) Eltern. Und auf diese Weise soll ich auch meine Mitmenschen wichtig nehmen. D.h. in meinem Verhalten zu meinen Mitmenschen trainiere ich auch meine Beziehung zu Gott und umgekehrt. Das ist bei Jesus im Kern mit „Liebe“ gemeint und nicht die Gefühlsebene. Denn sonst könnte man „Liebe“ ja nicht gebieten. Das funktioniert bei einem Gefühl nicht. Und damit wären wir dann auch bei Galater 6,2 angelangt: „Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Denn das Gesetz Christi lautet: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Und wenn wir jetzt noch einmal auf die Geschichte vom Vater, der sein Kind auffängt, zurückkehren, dann wird deutlich, worum es beim Sorgen und beim Vertrauen geht:
Ich konzentriere mich nicht auf das, was geschehen könnte, sondern ich nehme wahr, was jetzt notwendig ist und versuche, entsprechend zu handeln im Vertrauen darauf, Gott weiß, was ich brauche! Es mag ja sein, dass die totale Katastrophe kommt. Dagegen könnte ich nichts machen! Aber solange die totale Katastrophe nicht kommt, habe ich Handlungsspielraum, und den soll ich nutzen und zwar so, dass ich lerne, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Denn „Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Meint ja nicht nur, dass ich anderen Menschen helfen soll, sondern auch, dass ich fähig werde, mir von anderen Menschen helfen zu lassen, so dass wir zusammen mehr erreichen können als allein. Ich bin überzeugt, dass Gott uns gerade dafür so unterschiedlich geschaffen hat, denn ein breit aufgestelltes System, das die Fähigkeiten möglichst vieler nutzt, ist immer haltbarer als ein System, dass sich nur auf ganz wenige hochgezüchtete Eigenschaften weniger verlässt! Vertrauen im Alltag trainieren und Nächstenliebe, das bringt uns weiter. Auch wenn es bis zum Vertrauen von Rabbi Schalom Mardochaj noch ein weiter Weg für die meisten von uns sein dürfte!
Während der Rabbi Schalom Mardochaj eines Tages in seinem Hause saß und meditierte, war ein Pogrom losgebrochen: Die entfesselte Menge steckte die Synagoge in Brand. Er aber, Rabbi Schalom, so sagt man, blieb ruhig im Hause bei seinen Gedanken sitzen.
»Denn«, so klärte der weise und sehr würdige Mann, »gibt es eine Gerechtigkeit Gottes, so werden die Verbrecher ihre Strafe finden, und die Synagoge wird neu erstehen. Gibt es aber«, so klärte der Rabbi, »keine Gerechtigkeit Gottes — wozu brauchen wir dann eine Synagoge?« (Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten Bd.1, Nr. 93)
Ich wünsche offene Augen und Herzen, weniger Angst und mehr Vertrauen
Ihr/Euer Pastor Schnoor