Liebe Leserinnen und Leser

Wieder einmal eine dieser Wochen, in denen sich kurzfristig so viele Termine ansammeln und so viele Texte zu schreiben sind, dass mein Kopf im Blick auf die Wochenandacht leer ist. Und dann sprang mich ein Bild an und eine dazu gehörende Bildbetrachtung. Beides passte irgendwie zu meinem augenblicklichen inneren Zustand und schenkte mir Trost und eine Idee. Darum dachte ich, es könne auch für Sie und Euch hilfreich sein und „teile“ mal wieder fremdes Gedankengut mit Ihnen und Euch:

  „Das Zerbrochene heilen“ © Kunstwerk und Foto der Künstlerin Simone Weigelt

Bildbetrachtung (Henning Strunk): Von Repair-Cafés, Weizenkörnern und einer alten japanischen Tradition. Gedanken zum Wochenspruch Johannes 12,24

 (aus: WERKSTATT für Liturgie und Praxis, Ausgabe 1-2023 für März 2023, 19-20)

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In meinem Heimatort hat vor einiger Zeit ein sogenanntes Repair-Café eröffnet. Dort werden Besucherinnen und Besucher dazu eingeladen, kaputte und beschädigte Geräte und Gegenstände mitzubringen, die dann von Mitarbeitenden repariert werden.

Es scheint so, als ob nach langen Jahren der Wegwerfkultur an vielen Stellen ein Umdenken einsetzt. In Japan gibt es eine jahrhundertealte Kunst der Keramikreparatur, die sich genau diesem Ziel widmet. Sie nennt sich Kintsugi, was übersetzt so viel bedeutet wie „Goldreparatur“. Bei dieser Reparatur werden die Bruchstellen der Krüge und Schalen mit einem besonderen Lack neu zusammengeklebt, der mit feinstem Goldstaub vermischt ist.

Dadurch werden die Bruchstellen und Risse nicht übermalt oder kaschiert, sondern – ganz im Gegenteil – besonders hervorgehoben und sichtbar gemacht. Denn in der Kunst des Kintsugi werden die Brüche nicht als ein Makel wahrgenommen. Sie tragen stattdessen dazu bei, dass aus dem neu zusammengefügten Gefäß ein besonderes Kunstwerk wird. Es ist das Leuchten der goldenen Bruchstellen, die das Gefäß zu etwas Besonderem machen. Aus dem Zerbrochenen entsteht etwas Neues, Kostbares.

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Obwohl Jesus von seiner Ausbildung her vermutlich Zimmermann war, hat er sich doch in seinem ganzen Leben als Meister des Kintsugi gezeigt. Mit einem weiten Herz für Menschen hat er ihre Verletzungen und Brüche liebevoll angesehen und sichtbar gemacht. Offenbar hatte er die Gabe, diese Lebensbrüche zu heilen und zu einem Teil eines neuen Weges zu machen. Sein Werkzeug, sein Goldstaub, war die Liebe – und die Fähigkeit, keinen Menschen aufzugeben. Die große Pointe seiner Botschaft besteht ja gerade darin, dass wir nicht so tun müssen, als hätte unsere Lebensschüssel keinen Sprung. Stattdessen lädt er zu einem wahrhaftigen Lebensstil ein, der sich nicht durch Perfektion und Makellosigkeit auszeichnet, sondern völlig auf das Vertrauen in den göttlichen Goldstaub setzt, der die Teile unseres Lebens zusammenhält.

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Selbst den größten und ultimativen Zerbruch – den Tod – hat er aus dieser Perspektive der Hoffnung gesehen. Wahrscheinlich hatte Jesus schon seinen eigenen Tod am Kreuz vor Augen, als er zu seinen Jüngern sagte: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“

Im „Sterben“ und Aufbrechen verändert das Weizenkorn seine äußere Form. Aber selbst dieser Zerbruch trägt schon –zunächst noch unsichtbar und unter der Erde verborgen – den Keim eines Neuanfangs in sich.

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Darin verbirgt sich das tiefe Vertrauen, dass Gott selbst aus dem Zerbruch am Ende unseres Lebens etwas ganz Neues erwachsen lässt. Aus diesem Vertrauen erwächst die Einladung zu einem wahrhaftigen Leben, das die Risse und Verletzungen nicht übermalt oder ausblendet, sondern sie immer wieder in Gottes Hände legt. Daraus erwächst ein Leben, das nicht dem Ideal von Perfektion und Makellosigkeit hinterherläuft, sondern darauf vertraut, dass mein Leben mit allen Brüchen und Scherben in der Hand Gottes steht – dem, so könnte man sagen, großen Kintsugi-Meister meines Lebens.

Eine wunderbare Vorstellung, dass Gott am Ende unseres Lebens etwas Neues, Ganzes aus den Fragmenten unseres Lebens schaffen kann. Aber ich denke, er kann sogar schon in diesem Leben das, was wir als unperfekt oder „kaputt“ bei uns wahrnehmen, als etwas Gutes und Notwendiges für Zusammenhänge nutzen, die wir selbst vielleicht gar nicht im Blick hatten. Dazu noch eine kleine Geschichte zum Schluss (von der ich leider nicht mehr weiß, woher ich sie habe! Ich bitte, den Autor um Verzeihung dafür, sie dennoch zu verwenden, sie ist so schön!)

Es war einmal ein Mann, der hatte zwei Wasserkrüge. Die beiden Krüge befestigte er an den beiden Enden einer langen Stange, die er sich über die Schulter legte, wenn er Morgen für Morgen zum Fluss ging, um Wasser zu holen. Der eine Krug war völlig heil, während der andere einen tiefen Riss hatte, was dazu führte, dass der Krug nur noch halb voll war, bis der Mann vom Fluss nach Hause gekommen war.

Eines Tages, als der Mann die Krüge am Fluss füllte, konnte der gesprungene Wasserkrug nicht mehr länger still sein. „Ich schäme mich so schrecklich“, weinte der Krug. „Ich mache einen schlechten Job. Wegen meines Sprunges bekommst du nur halb so viel Wasser von mir, wie du eigentlich solltest. Ich fühle mich so misslungen.“ „Ich wusste nicht, dass du dich so schlecht fühlst“, antwortete der Mann bekümmert. „Aber tu mir einen Gefallen: Schau genau auf den Weg.“ Als sie nach Hause zurückgekommen waren, fragte der Mann: „Hast du die schönen Blumen am Wegrand bemerkt?“ „Ja“, seufzte der Krug. „Hast du bemerkt, dass sie nur auf deiner Straßenseite wachsen? Weißt du, ich habe immer gewusst, dass du einen Sprung hast. Darum habe ich Blumen am Wegesrand gepflanzt, die Du jeden Tag begossen hast. Wenn Du nicht so wärst, wie Du bist, hätte ich nicht jeden Tag Blumen pflücken können, um sie zu Hause auf den Tisch zu stellen. Ohne Deinen Sprung hätten sich weder der Wegesrand noch das Haus an dieser Blütenpracht erfreuen können.“

Ich wünsche liebevolle Blicke auf die Risse des eigenen Lebens und die Blumen, die sich ihnen verdanken! Und ich weiß selbst, wie schwer das oft ist!

Ihr/Euer Pastor Schnoor