Liebe Leserinnen und Leser
Gegen Ende letzter Woche war ich dann endlich den zweiten, den leicht-rosa Strich auf meinen Teststreifen los und konnte meine Isolation verlassen, gerade rechtzeitig für die erste von 6 Trauerfeiern, die in den folgenden 12 Tagen anlagen. Und mittendrin war noch der neue Gemeindebrief in die Druckfassung zu bringen und zwei Gottesdienste über die Erwartung vorzubereiten und zu feiern „Wann kommt das Reich Gottes?“
Und am nächsten Sonntag kommt „Volkstrauertag“ und das Ganze im November, dem Monat, der es mir alle Jahre wieder schwer macht, christliche Hoffnung zu leben und weiterzugeben. Ich fühle mich da eher sehr bodenschwer und meine Zukunftsperspektive reduziert sich auf eine Woche und die Hoffnung, sie anständig hinter mich zu bringen und meine Aufgaben so zu erfüllen, dass ich den Menschen, mit denen ich zu tun habe, doch noch etwas Gutes mitgeben kann.
Und in diese Gefühlslage hinein lese ich in einem meiner Materialhefte für Predigten eine Bildbetrachtung zu folgendem Bild, quasi ein Kontrastprogramm zu meiner Befindlichkeit und mal wieder ein klassisches Beispiel dafür, dass wir Menschen ein Gegenüber brauchen, das uns eine ganz andere Perspektive schenkt.
Für mich war diese Bildbetrachtung so etwas, darum teile ich sie mit Ihnen und Euch und hoffe, sie tut Euch auch gut, so wie mir!
Bildbetrachtung zu einem Foto von Ingrid Glauner
(aus: Werkstatt für Liturgie und Predigt, Ausgabe 9.2022, S. 331-332)
Gottes Hand hält dich
1
Ein Sommertag in den österreichischen Bergen. Auf der Startwiese der Paraglider herrscht Hochbetrieb: Männer und Frauen fliegen hinab ins Tal. Ihre Gleitschirme leuchten in bunten Farben. Ein bisschen sehen sie aus wie Schmetterlinge, wie sie da leicht und fröhlich ihre Kurven ziehen.
Im Bild ist ein einzelner Paraglider zu sehen. Wir stehen links hinter ihm. Sein Gesicht ist nicht mehr im Bild. Wir sehen ihm nach, wie er aus voller Kraft Anlauf nimmt. Er beugt sich weit nach vorne, lehnt sich in die Seile, durch die er mit seinem Gleitschirm verbunden ist. 27 qm dünne Folie, blau mit grünen und weißen Elementen. Sie knistert leicht, als der Wind hineinfährt und sie entfaltet.
2
Spürst du dieses Kribbeln im Bauch, die Vorfreude auf den Moment, alles hinter dir zu lassen, frei und leicht durch die Luft zu schweben? Der weite Blick über die Berge, komplette Stille in diesem Raum zwischen Himmel und Erde. Unendliches Glück.
So stelle ich es mir vor.
Oder ist da doch eher Herzklopfen und das Gefühl, sich zu überwinden? Dieser Schritt hinein in die Luft, wo mein Leben nur an einer dünnen Plastikfolie hängt – würde ich ihn wagen? Angst oder Freude? Wunsch nach Kontrolle oder der Traum, sich tragen zu lassen? Zuschauer bleiben, mit beiden Beinen am Boden, oder mitfliegen, hinein in diesen wunderschönen Sommertag?
Wie würdest du dich entscheiden?
3
Die Paraglider auf der Startwiese nehmen sich Zeit für den Moment vor dem Start. Sie sind ganz bei sich, voller Konzentration. Spricht die eine oder der andere von ihnen innerlich ein Gebet?
Gottes Hand hält dich. Das ist mein Gebet, das ich dem Paraglider hinterherschicke, als er abhebt. Gottes Hand hält dich, sage ich leise zu mir selbst und bin voller Sehnsucht, mich diesem Wort ganz und gar anzuvertrauen und zu spüren, wie es mich trägt.
4
Mein Glaube an Gott ist wie ein Gleitschirmflug. Will ich den Glauben wagen? Oder bleibe ich lieber mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen? Kann ich vertrauen auf einen Gott, den ich nicht sehen kann? Das braucht Mut.
Und es verspricht auch unendliche Freiheit: Ich lege mein Leben in deine Hand, Gott, und lasse alles hinter mir, was mir schwer auf den Schultern liegt. Die Sorgen um meine Zukunft, meine Verpflichtungen, meine Ängste – ich streife sie ab und fliege zwischen Himmel und Erde. Jubelnde Freude über diese Welt und über mein Leben, sich aufgehoben fühlen, getragen wissen. So möchte ich Gott spüren und an ihn glauben, mit jeder Faser meines Körpers.
Werde ich mich trauen? Und du?
Ich wünsche Ihnen und Euch „Auftrieb“ für die neue Woche und Kraft, die das matte November-Gemüt wieder aufrichtet, also das, was ich mir auch wünsche!
Ihr/Euer Pastor Schnoor