Predigttext: Hiob 19, 19-27
Hiob, der alle verloren hat und sich von seinen Freunden unverstanden fühlt, klagt:
Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.
Predigt
Hiobs Geschichte ist der Teil einer viel größeren Geschichte. Sie klingt ein wenig wie ein Märchen, aber tatsächlich ist es unsere eigene Geschichte. Man könnte sie folgen- dermaßen erzählen:
Vorzeiten lebte eine Menschheitsfamilie. Sie bestand aus verschiedenen Sippen an un- terschiedlichen Orten. Wo immer sie lebten, hatten die Menschen gelernt zusammen- zuarbeiten. Das machte es leichter, etwas zu essen zu bekommen und sich gegen Be- drohungen zu verteidigen. Und indem ihr Leben leichter wurde, fingen sie an, Besitz anzusammeln. Dadurch allerdings entstanden immer wieder Neid und Streit. Man wurde zornig und wollte Strafe. Oder lieber noch: Rache. Aber Rache gebar noch mehr Rache. Tötest du meinen Bruder, töte ich zwei deiner Brüder. Darum erfanden die Menschen Gesetze. Diese sollten für ein Gleichgewicht sorgen, das man Gerechtigkeit nannte. Zum Beispiel: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Man durfte nur so viel wegneh- men, wie einem selbst weggenommen worden war. Es sollte Wiedergutmachung ge- ben, aber keine Rache. Und die Menschen waren stolz darauf, dass sie nun zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse unterscheiden konnten.
Sie merkten, wie machtvoll diese Unterscheidung war, und waren davon überzeugt, sie müsse von Gott gekommen sein. Sie stellten sich vor, dass Gott ihr oberster Richter war, der alles sehen konnte und darüber wachte, ob die Gesetze eingehalten wurden. Er würde es gut finden, wenn sie alles richtig machten. Und er würde sie strafen, wenn sie es nicht taten. Wenn jemandem etwas Schlimmes widerfuhr wie Krankheit oder Unfall, hieß es: Du musst etwas Böses getan haben, sonst würde Gott dich nicht be- strafen. Und wieder waren die Menschen stolz. Denn mit Gottes Strafe konnten sie Dinge erklären, die ihnen vorher ein Rätsel gewesen waren. Und weil sie feststellten,
dass es keinem Mensch gelingt, immer nur gut zu sein, brachten sie Gott Opfer, damit er sie trotzdem nicht strafte.
Bald fingen sie an, sich Geschichten zu erzählen von erstaunlich gerechten Menschen, die alles taten, was Gott von ihnen wollte. Sie erzählten von Abraham, der für Gott sogar seinen Sohn geopfert hätte. Sie erzählten von Hiob, der all seine Kinder, seinen Reichtum und seine Gesundheit verlor, weil der Teufel mit Gott um seine Treue gewet- tet hatte. Aber Gott gewann, denn Hiob hielt zu Gott. Er wurde gesund und reicher und kinderreicher als zuvor. Niemand interessierte sich für Abrahams erschrockenen Sohn oder Hiobs tote Kinder. Niemand interessierte sich für die Frage, ob ein gerechter Rich- ter die Menschen auf solche Proben stellen würde. Wichtig war nur der unglaubliche Gehorsam gegen Gott, auch wenn Hiob weinte und schrie und Gott anklagte. Denn dieser erschien ihm wie eine Mauer, gegen die er anrannte, bis Gott schließlich in all seiner Macht doch mit ihm sprach und ihn von seinem Leid erlöste.
Die Menschen liebten diese Geschichten, denn sie wussten aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt zu leiden. Sie wussten, wie schrecklich es ist, wenn man krank ist oder seine Kinder verloren hat – und wenn andere einem dann noch die Schuld dafür geben. Sie wussten, wie furchtbar es ist, wenn man seine Unschuld beteuert und niemand einem glaubt. Sie erzählten Hiobs Geschichte und begriffen dadurch neu, was sie ei- gentlich schon lange gewusst hatten, nämlich: dass das Leben nicht gerecht ist, weil es den Ehrlichen nicht immer gut geht oder den Bösen schlecht. Aber weil sie keine Erklä- rung dafür fanden, fuhren sie fort, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, denn das hatte sich bewährt. Manchmal konnten sie dadurch Gerechtigkeit herstellen. Und manchmal fühlte es sich einfach gut an, wenn man sich selber zu den Guten zählen und mit dem Finger auf andere zeigen konnte.
Als später Jesus von Nazareth mit den sogenannten Bösen zu Abend aß, von der Ver- gebung Gottes predigte und sagte: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ – da taten sich einige zusammen, die genau zu wissen glaubten, was das Gute sei, und brachten Jesus um. Sie hofften, niemand würde sich an seine Worte erinnern. Aber es dauerte nicht lange, da hieß es, Gott habe Jesus auferweckt und werde auch alle ande- ren Menschen eines Tages auferwecken. Und die Menschen, die an Jesus glaubten, wurden immer mehr. Sie waren sich sicher, dass Gott mit dem Tod Jesu einverstanden gewesen sein musste. Ja, sie sagten, sein Tod sei sogar nötig gewesen, um das gerechte Gleichgewicht wiederherzustellen, das die Menschen mit ihren bösen Taten durchei- nandergebracht hätten. Man fing an, von Jesus als einem Opfer zu sprechen, das den Zorn Gottes besänftigt habe. Oder man nannte ihn ein Lösegeld für die menschlichen Sünden. Denn Opfer und Lösegeld kannten die Menschen, schon; diese Erklärung er- schien ihnen vernünftig. Und sie erwarteten eine große Gerichtsverhandlung Gottes, zur Strafe und zur Belohnung an Orten, die sie Hölle und Himmel nannten.
Eifrig überlegten sie, wer von ihnen wohl eines Tages an welchen Ort kommen würde. Sie fingen an, nicht nur die Taten der anderen zu beurteilen, sondern auch den Glauben und die Meinungen. Es war schön, sich selbst zu denen zu rechnen, die später in den Himmel kommen würden. Es tat gut sich vorzustellen, wie die, die man noch nie
gemocht hatte, später in die Hölle kommen würden. Der alte Drang nach Rache und Strafe wohnte immer noch in den Herzen der Menschen.
Und so urteilten sie und bewerteten einander. Jahrhundertelang. Diejenigen, denen Gott und der Himmel irgendwann nicht mehr so wichtig waren, konnten über andere Dinge urteilen. Man beurteilte, was der andere aß oder wen er wählte, welche Haut- farbe jemand hatte oder in wen er sich verliebte. Die einen wurden verdächtigt, böse zu sein, weil sie „alte weiße Männer“ waren, und andere, weil sie junge schwarze Män- ner waren – oder Frauen, die nicht ins Schema passten. Und weiterhin fühlten Men- schen dasselbe wie Hiob: „Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt… Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch?“
Die Verfolgten versuchten, sich aus den Schubladen zu befreien, in die man sie ge- steckt hatte. Sie schrien auf gegen Vorurteile und Hassreden und gegen den Verdacht, von Gott verabscheut zu werden. Und sie sehnten sich danach, dass man ihnen ihre Unschuld glaubte und nie wieder vergäße: „Ach, dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach, dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!“
Mit der Zeit keimte immer wieder und immer stärker der Gedanke auf, dass Gott kein Gerechtigkeits-Prüfer von Beruf ist, der Belastungsproben erfindet, und kein Buchhal- ter mit gewaltigen Listen von Sünden oder guten Taten. Man ahnte, Gott hat kein Wett- büro und fordert keine Lösegelder oder Opfer wie die Mafia. Es geht ihm nicht um Strafe; es sind die Menschen, die sich danach sehnen, nach Rache und Genugtuung. Gott aber geht es um etwas anderes: „Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder…“
Irgendwann in Zukunft werden wir verstanden haben, dass Gottes Hauptberuf der des Erlösers ist. Er ist imstande, aus Bösem Gutes entstehen zu lassen, immer wieder, bis es eines Tages das Böse nicht mehr geben wird. Er lehrt Menschen, was Achtung und Vergebung ist. Auch wenn das quälend lange dauert, haben wir schon dazugelernt. Wir brauchen Richter für unser Zusammenleben, aber wir versuchen dafür zu sorgen, dass jedem Angeklagten zugehört wird. In vielen Ländern haben wir die Todesstrafe abge- schafft und kämpfen gegen Folter. Wir versuchen, die Höllen von Gewalt und Unter- drückung auf der Welt zu schließen. Dafür müssen wir das Böse erkennen und beim Namen nennen. Zugleich ahnen wir aber, wie groß die Versuchung ist, andere für böse zu erklären, nur um sich selbst überlegen zu fühlen. Wir lernen, dass wir immer noch eine Menschheitsfamilie sind, die gut daran tut, sich nicht ständig in „Wir“ und „die Anderen“ zu zerteilen.
Unsere Aufgabe könnte schlicht sein, zu lernen, dass Gott weniger Richter als vielmehr Anwalt des Lebens und des Zusammenlebens ist, dass er seine Menschheitsfamilie nach und nach lehren will, dass die Unterscheidung von Gut und Böse nicht dazu dient, das Schlechte beim anderen zu suchen, sondern selbst das Gute anzustreben. Amen.
Fürbittengebet
Gott, unsere Klagemauer, wir rufen zu dir,
aber manchmal rennen wir auch gegen dich an.
Wir bitten dich für alle, die sich von dir verlassen fühlen, die keine Hilfe von dir erkennen kön- nen und an ihrem Elend zerbrechen.
Gib dich ihnen tröstend zu erkennen und eile ihnen zu Hilfe.
Gott, unser Helfer, wir bitten dich für die grundlos Verfolgten, die Gehetzten und Atemlosen, die Unterdrückten und Gequälten.
Stelle ihnen Menschen an die Seite und Fürsprecher, die ihre Stimme erheben und Gerechtig- keit fordern. Nimm du dich ihrer Sache an.
Gott, du Anwalt des Lebens, wir bitten dich für die Menschen, die im Namen von Recht und Gesetz arbeiten, für Richter und Anwälte, Justizangestellte und Polizisten:
Lass sie deine Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren und schenke ihnen klares Urteils- vermögen. Stärke sie zu ihrem Tun und lass sie die Anerkennung erfahren, die sie verdienen.
Gott, der du unsere Herzen kennst, wir bitten dich für uns, dass wir in der Unterscheidung von Gut und Böse nicht den Splitter in den Augen der anderen suchen, sondern bei uns selbst anfangen.
Du bist unser Vater/ unsere Mutter, lass uns handeln, wie es den Kindern Gottes zukommt.
Amen