Liebe Gemeinde,

es gibt heute Christen, die sich durchaus als gläubige Menschen verstehen, die aber mit Beten und Gebet wenig anfangen können. 

Andere Religionen scheinen es da etwas leichter zu haben. Im Judentum und im Islam ist Gebet nicht in erster Linie eine persönliche Sache, sondern etwas, das zum Tagesablauf eines religiösen Menschen genauso dazugehört wie das morgendliche Zähneputzen oder der Gang zum Bäcker. Es gibt feste Gebetszeiten und es gibt Worte, die man nicht erst erfinden muss, sondern die da sind und die man wiederholen kann.

Etwas ist das auch so beim christlichen Stundengebet, das mir sehr am Herzen liegt. Ich habe es mir seit einer Gastzeit in einem Kloster zu eigen gemacht. Zuerst erschien es mir etwas eintönig, immer dieselben Psalmen zu sprechen oder zu singen. Da habe ich einen Mönch gefragt, ob er da wirklich jedes Mal ganz bei der Sache ist, wenn er die Psalmen betet. „Nicht immer” war seine Antwort mit einem gewissen Schmunzeln, aber beim Gebet käme es auch nicht darauf an, dass ich das nun mache und dabei mein Herz ausschütte, sondern dass Gott gelobt und gepriesen wird. Gebet ist Gottesdienst und der gehört zum Leben nun mal dazu, auch wenn einem vielleicht gar nicht immer der Sinn danach steht. Der Mönch verglich das Beten etwas mit Klavierspielen oder Sporttreiben: Man muss es üben, es fällt einem nicht immer zu, aber man kommt rein, und irgendwann einmal fühlt und hört es sich dann auch gut an. 

Aber trotzdem bleibt die Frage: Was geschieht, wenn wir beten? Ist es letztlich ein Selbstgespräch auf einer Bühne mit Gott im abgedunkelten Zuschauerraum? Oder sollten wir eher an eine psychiatrische Praxis denken. Legen wir uns also beim lieben Gott auf die Couch und lassen unseren Gedanken, Ängsten und Wünsche freien Lauf – in der Hoffnung, dass sich dabei irgend etwas für uns klärt? 

Oder aber stellen wir uns das tatsächlich so vor, dass Gott einfach „da” ist und alles sieht und hört, was wir tun? Als Partner, als Freund, der einem beisteht? Oder als Vater und Mutter, die über einem wachen?

Die Liste der Fragen, was Gebet ist, kann man lange fortsetzen und vermutlich hätte jeder von uns hier seine eigenen Erwartungen oder Zweifel, was dabei geschieht und was es „bringt”. Aber egal, wie man diese Fragen stellt und wie man sie beantwortet, an unserer Haltung zum Gebet zeigt sich zuerst und vor allem, wie wir über uns selbst denken: Bin ich allein unterwegs durchs Leben – wenn ich Glück habe mit Menschen, die mir etwas bedeuten und denen ich wichtig bin? Aber eben doch irgendwie allein.

Oder bin ich, als dieser ganz kleine Punkt auf dem Zeitstrahl der Ewigkeit und auf der endlosen Karte des Universums, trotzdem jemand, um dessen Existenz Gott weiß und dessen sich Gott, in welcher Weise auch immer, annimmt? In dem Moment, in dem wir anfangen zu beten, in dem wir sagen „Vater unser”, „Barmherziger Gott” oder wie auch immer unser Gebet beginnen mag, öffnen wir eine Tür, halten wir es zumindest für möglich, dass Gott – dieses unendliche Wesen – auf uns aufmerksam ist. Das zu glauben braucht Mut, den Mut der Hoffnung oder den Mut der Verzweiflung, aus dem jedes Gebet geboren wird. 

Es gibt viele Menschen, die von sich sagen, dass sie an einen Gott oder ein höheres Wesen glauben, denn irgendeinen Grund muss es ja dafür geben, dass wir da sind. Aber wenn man betet, geht man einen Schritt weiter. Dann glaube ich, dass dieses Wesen – nicht allein und ausschließlich – aber eben auch mich sieht und hört. Wer betet, geht einen Schritt über sich selbst hinaus. Und schon allein deswegen sollte man beten oder es zumindest versuchen, denn wer betet, begnügt sich nicht mit sich selbst. 

Aber was soll man eigentlich sagen oder nicht sagen im Angesicht Gottes? Als ob man Gott irgendetwas sagen, erklären oder begründen müsste. Wenn selbst Christen heute ihre Schwierigkeiten mit dem Beten haben, dann vielleicht aus der verständlichen Ratlosigkeit darüber, was es denn eigentlich zu sagen gibt. 

Schauen wir auf zwei Antworten, die uns die Bibel selbst gibt. Die eine kommt aus Jesu eigener Gebetspraxis, aus der uns das Vaterunser überliefert ist. Die Jünger kommen zu ihm und fragen ihn, wie sie beten sollen, weil sie das von allein genauso wenig können wie wir heute. Und Jesus warnt sie tatsächlich davor, aus Unvermögen in Geplapper und Geschwätzigkeit zu verfallen. Man redet ja bekanntlich dann am meisten, wenn man am wenigsten zu sagen hat. Nein, beten geht gar nicht mit mir los, sondern mit Gott: „Vater unser im Himmel, dein Reich komme, dein Wille geschehe!”

Wenn man es ganz genau nimmt, ist damit eigentlich schon alles gesagt. Denn was kann man sich und der Welt mehr und Besseres wünschen als dass Gottes Wille geschehe! „Dein Reich komme, dein Wille geschehe!”, das sollte man eigentlich still vor sich hinsagen, während man die Nachrichten anschaut oder die Zeitung liest. Wenn da Präsidenten und Mächte sich die Welt nach ihrem eigenen Gusto zurechtlegen, uns einmal mit Kriegsdrohungen einschüchtern und dann wieder mit Friedensversprechungen in Sicherheit wiegen, dann steht dagegen klar und fest der Satz „Dein Wille geschehe”. Nein, nicht „America first” oder irgendeine andere Form der Selbstanbetung, sondern „Dein Reich komme”. – „Dein Wille geschehe!” Wenn man das wirklich meint, wirklich will, und dabei nicht nur den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, dann ist das der frömmste Satz, den man sagen kann. Denn erst, wenn wir diesen Satz ganz verinnerlicht haben, machen wir ernst damit, dass Gebete nicht nur Abziehbilder unserer eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind.

Damit sind wir nun auch – endlich – bei unserem Predigttext angekommen. Auch da geht es darum, was ein Gebet ist und was es tut. Aber anders als das Vaterunser beginnt Gebet hier nicht bei Gottes Willen, sondern umgekehrt ganz tief unten, wo keine Vergebung und keine Erlösung vom Bösen ist. Dieser Text steht gar nicht in jeder Bibel, denn er gehört zu den sogenannten apokryphen Schriften – Texten, die zwischen dem Alten und dem Neuen Testament stehen. Hier, in unserem Text nun, spricht ein Weisheitslehrer mit Namen Jeschua ben Sira oder, wie wir ihn meistens einfach nennen, Jesus Sirach. Es ist ein langes Buch, in dem dieser Jesus Sirach auch auf das Gebet eingeht.

Dazu schreibt er Folgendes (Sir 35, 16-22): 

Er (Gott) hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält. 

Liebe Gemeinde, bis hierher haben wir uns gefragt, was Beten eigentlich ist und was es soll. Und wir haben dabei an Gebet als etwas Planvolles gedacht, für das wir Worte finden müssen und eine innere Haltung. Anders gesagt, wir haben das Gebet als etwas verstanden, das nicht nur Herz, sondern auch Hirn braucht. Aber dieser Jesus Sirach will uns auf eine etwas andere Spur führen. Für ihn ist Gebet nicht nur eine Sache des gläubigen Menschen, sondern vor allem des leidenden Menschen. Wo jemand in Not ist, wo jemand vor Schmerz oder vor Verzweiflung aufschreit, wird daraus ein Gebet, das zu Gott aufsteigt. Es ist ein Gebet ohne Worte, das für uns spricht, wenn wir selbst schon gar nicht mehr sprechen können. Dafür findet Sirach ein eindrückliches und kraftvolles Bild: Ein solches Gebet durchbricht die Wolkendecke und ruft so lange zu Gott, rennt ihm sozusagen die Tür ein, bis es erhört wird. Das Gebet ist die Kraft des leidenden Menschen, die gerade dann wirkt und mächtig ist, wenn wir am Boden zerstört sind.

Ich finde das ist ein trostreicher Gedanke, denn das bedeutet, dass wir nicht nur an der Oberfläche mit mehr oder weniger gelungenen Worten beten, sondern aus der Tiefe unserer Existenz heraus – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Es bedeutet auch, dass Gott nicht erst auf Empfang geht, wenn wir unsere Hände falten, und dass er wieder ‚auflegt’, wenn wir „Amen” sagen. Wenn unser Leben am Abgrund steht, am seidenen Faden hängt, wenn ihm Gewalt und Willkür angetan wird, dann fängt es an zu beten, und Gott wird es hören. Tränen beten ebenso wie unschuldig vergossenes Blut, und Gott versteht ihre Sprache. Zu alle dem muss man kein gläubiger Mensch sein. Was man sein muss, ist etwas, das jeder Mensch ist, nämlich Gottes Geschöpf. Und so steigen zu Gott die Gebete ohne Worte auf – aus den zerbombten Straßen von Aleppo, aus Dürrezonen Afrikas, aus Krankenhäusern und Hospizen oder einfach aus gebrochenen Herzen und verwundeten Seelen, egal wo auf der Welt. Und ich denke mir, dass jetzt in dieser Minute und auch unserem Kreis solche Gebete ohne Worte aufsteigen und dass Gott da ist. 

Vielleicht gibt uns das eine letzte Antwort auf die Frage, wie wir beten können. Diese Antwort ist, dass wir längst damit angefangen haben. Beten gehört in die DNA des Menschen als Geschöpf Gottes. Es ist da und es ist wirksam. Was wir lernen müssen ist, es auch an die Oberfläche zu lassen, damit es etwas wird, das, wie Johann Sebastian Bach es vielleicht gesagt hätte, gleichermaßen aus Herz und Mund und Tat und Leben kommt. 

Amen.