Liebe Leserinnen und Leser

Ab und zu hatte ich es ja schon, die Situation, dass mir selbst partout nichts für diese Wochenandacht einfällt, weil ich gedanklich an zu vielen Themen bin. Und wenn ich dann einen Text finde, den ich viel besser finde als alles, was ich gerade schreiben könnte, dann nehme ich auch diesen Text, in der Hoffnung, dass er Sie und Euch berührt und von Nutzen ist. Das tue ich auch in dieser Woche mit einem Text des sehr bekannten Benediktinerpaters Anselm Grün aus dessen Buch „Jeder Mensch hat einen Engel“, in meiner (2. Auflage) des Herder Verlags von 2000 im 20. Kapitel, Seiten 131-134):

DER ENGEL, DER DIE ANGST NIMMT

In der lukanischen Fassung der Ölbergszene erscheint ein En­gel Jesus in seinem Gebetskampf und stärkt ihn. Jesus hat Angst. Er steht vor Frage, ob er fliehen oder standhalten soll. Er ringt mit Gott, ob es denn sein Wille sein könne, dass er ster­ben müsse. Er wollte den Menschen die Botschaft vom barm­herzigen Vater verkünden. Er wollte ihnen die Güte und Men­schenfreundlichkeit Gottes erweisen und sie auf den Weg des Friedens und des Lebens führen. Doch nun wenden sich die Repräsentanten der Juden, die römerfreundlichen Sadduzäer, gegen ihn. Soll er seinem Auftrag untreu werden und nur sich selbst retten? Kann es sein, dass Gott ihn dem gewaltsamen Tod preisgibt? In seinem Gebetskampf bittet er inständig: „Va­ter, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und gab ihm neue Kraft.” (Lk 22, 42 f) Der Engel steht ihm in seiner Angst bei. Lukas schildert diese Angst Jesu sehr realistisch: „Er betete in seiner Angst noch inständi­ger, und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte.” (Lk 22, 44) Das griechische Wort für Angst heißt hier: „Agonia”. Es kommt von „agon = Kampf, Wettkampf”. „Agonia” ist der innere Aufruhr, die Besorgnis, die Angst um den Sieg, „die letzte Spannung der Kräfte vor hereinbrechenden Entschei­dungen und Katastrophen” (Stauffer, Theologisches Wörter­buch 1, 140) Es bezeichnet die Todesangst, das letzte Aufbäu­men aller Kräfte vor dem Ermordetwerden. Bei Jesus ist es die Angst, ins Nichts zu fallen, die Angst vor dem Kampf um Le­ben und Tod, die Angst vor einer Qual, die er nicht absehen kann, die Angst vor der Willkür der Macht, der er schutzlos ausgeliefert ist. In dieser Angst steht der Engel Jesus bei, er stärkt ihn und verwandelt die Angst. Denn nach diesem Kampf geht Jesus gefasst und aufrecht zu den Jüngern und sagt zu ih­nen: „Steht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung gera­tet!” (Lk 22, 46) Das Gebet hat Jesus geholfen, in der Versu­chung, in der Verwirrung wieder Klarheit zu finden und Kraft für seinen Weg.

Von Ängsten werden heute viele Menschen heimgesucht. Auch wenn sie ihre Angst nach außen hin nicht zeigen, so ist sie doch ihr ständiger Begleiter. Und wenn sie einmal offen über sich sprechen können, dann ist die Angst ihr zentrales Thema. Da ist die Angst vor dem Versagen, die Angst, sich zu blamieren, vor den andern lächerlich zu erscheinen. Andere haben Angst vor Menschen, die Macht ausüben. Sie geraten in Panik, wenn andere sie kritisieren, wenn sie ihnen mit ihrer Autorität gegenübertreten. Es ist die Angst, dass die mit einem machen können, was sie wollen. Oder es ist die Angst, von an­deren abgelehnt zu werden, nicht mehr beliebt zu sein, wenn man Fehler macht. Oder es ist eine diffuse Angst, die man nicht mehr genauer erklären kann. Es kann die Angst vor der Dunkelheit sein, die Angst vor engen Räumen, vor Kranken­häusern, vor Einbrechern. Oder es ist die existentielle Angst vor Krankheit und Sterben, die Angst, es nicht zu schaffen, an seinem Leben vorbeigelebt zu haben. Unsere Ängste nähren sich aus Urängsten, die offensichtlich zum Menschen gehören. Es sind die Ängste, die in unserem kollektiven Unbewußten sit­zen und die von allen Völkern in ihren Sagen und Mythen be­schrieben werden: die Angst vor Vernichtung, Verschlungen-werden und Untergehen. Und die Angst, die vor einer konkreten Situation auftaucht, wird verstärkt durch Erfahrun­gen von Angst in der frühen Kindheit. Da ist eine Frau, die schon als kleines Kind längere Zeit im Krankenhaus verbringen musste, ohne einen Besuch zu bekommen. In ihr brechen im­mer noch Ängste aus, wenn sie in ein Krankenhaus geht, um Kranke zu besuchen. In manchen Situationen hat sie Verlust­ängste, die durch die äußeren Bedingungen gar nicht gerecht­fertigt sind. Sie weiß um diese Urängste und kann inzwischen auch besser damit umgehen. Aber sie tauchen immer wieder auf und verstärken die Angst, die durch konkrete Erfahrungen ausgelöst wird. Eine andere Frau hat Angst vor jeder Autorität, weil sie sofort an den Vater erinnert wird, der sie brutal ge­schlagen hat, vor dem sie ohnmächtig und hilflos war. Bei je­dem, der sie laut anspricht, taucht diese Urangst des Kindes vor dem schreienden und schlagenden Vater auf.

Es gibt offensichtlich Ängste, die zwar durch die Therapie bewusst gemacht und bearbeitet, aber nicht völlig aufgelöst werden können. Sie bleiben trotz aller Bewusstmachung. Man kann versuchen, damit zu leben. Wenn man um die Wurzel der Ängste weiß, verurteilt man sich nicht mehr, wenn die Angst auftaucht. Man akzeptiert sie und kann sie dadurch re­lativieren. Es hat keinen Zweck, gegen die Angst zu kämpfen. Denn damit verstärke ich sie nur. Ich muss mich mit ihr an­freunden, mir erlauben, wovor ich Angst habe. Ich kann mir z. B. vorstellen, dass ich mich blamiere, dass ich das Stottern an­fange oder vor Aufregung und Unsicherheit schwitze. Was ge­schieht dann? Ist es wirklich so schlimm, wie ich befürchte? Lehnen mich dann wirklich alle ab? Oder kann ich es mir selbst nicht verzeihen, wenn ich einen Fehler mache? Ich kann mir auch vorstellen, dass mich in meiner Angst ein Engel be­gleitet, dass ich nicht allein bin mit meiner Angst. Die Angst darf sein, aber in meiner Angst weiß ich um den Engel, der bei mir ist. Der Engel in mir bringt mich mit dem Vertrauen in Berührung, das neben meiner Angst auch immer in mir ist. Jesu Angst ist nicht gleich vergangen, als der Engel ihn stärkte. Aber es hat sich etwas für ihn verwandelt. Wenn ich mir vor­stelle, dass ein Engel bei mir ist in meiner Angst, dann ver­schwindet dadurch die Angst noch nicht. Aber in meine Angst kommt ein Funke Hoffnung hinein. Manchmal scheint die Angst ja abgrundlos zu sein. Man meint, man hätte keinen Bo­den unter den Füßen. Das Bild, dass auch dort noch mein En­gel mit mir geht, schenkt mir in dieser Abgrundlosigkeit wie­der ein Stück Boden unter den Füßen, auch wenn er noch schwankend ist.

Ich bin der Angst nicht völlig ausgeliefert, sondern kann durch den Engel an meiner Seite auch einen Raum des Ver­trauens erfahren.

Ich hoffe, dieser Text war und ist für Sie und Euch so inspirierend wie für mich. Denn von Ängsten ist niemand von uns frei.

Eine gesegnete Zeit und einen wachsen Blick für die Boten Gottes (=Engel) im Alltag!

Ihr/Euer Pastor Schnoor