Liebe Leserinnen und Leser

Sie hatten es sich so schön vorgestellt. Endlich raus aus dem ewigen Druck mit harter körperlicher Arbeit bei schlechter Ernährung und keiner Perspektive und keiner Freiheit. Eigentlich war es unglaublich gewesen – und doch hatte es Mose irgendwie geschafft, den sturen König dazu zu bringen, sie, die Sklaven freizulassen. Und dann waren sie losgezogen auf dem Weg in ein neues Land, in dem Freiheit winkte und ein gutes Leben. Und die Hoffnung war riesengroß, und die Träume auch.

Und sie machten die Erfahrung, dass der Gott, dem ihr Anführer Mose diente, der Gott ihrer Vorfahren, mächtig war. Am Schilfmeer wurden sie gerettet vor einer ägyptischen Streitmacht, die sie wieder einfangen und zurückbringen sollte. Was für ein Erlebnis, und sie sangen vor Begeisterung!

Aber die Hoffnung und die Begeisterung wurden auf die Probe gestellt, denn das gelobte Land lag nicht gleich um die Ecke, und nun kam erst einmal die Wüste, der Ort, an dem man ohne all das Gewohnte auskommen muss, wo es nachts zu kalt und tagsüber zu heiß ist, wo es keine Ablenkungen gibt und man mit sich selbst klarkommen muss. Und statt begeistertem Gesang hörte man jetzt andere Töne:

 In der Wüste rebellierte die ganze Gemeinde gegen Mose und Aaron.

Die Israeliten sagten zu ihnen: »Hätte der HERR uns doch in Ägypten sterben lassen! Dort saßen wir an den Fleischtöpfen und konnten uns satt essen. Jetzt habt ihr uns in diese Wüste geführt, wo wir alle vor Hunger umkommen werden.« (2. Mose 16, 2-3)

Es wird gemeckert und die Vergangenheit wird in rosarot getaucht. Man schiebt Kohldampf, und die dürre Wassersuppe mit hartem Fladenbrot in Ägypten, garniert mit Peitschenhieben, wird zu den „Fleischtöpfen Ägyptens“!

Merkwürdig, wie schnell wir Menschen beginnen, die Vergangenheit zu verklären, wenn die Gegenwart schwierig wird. „Wisst Ihr noch, wie ideal die Zeit vor Corona war? Was haben wir nicht alles gemeinsam unternommen?“ Wirklich? War die Zeit vorher wirklich so ideal? Oder malen wir sie uns auch schön, denken nur an das, was – anders als in der Corona-Zeit – möglich war, aber nicht an das, was vorher auch nicht gut, nicht in Ordnung war? Und was machen wir eigentlich mit der Gegenwart, wenn wir nur in der Vergangenheit schwelgen? Wir nehmen das Gute und die Möglichkeiten, die uns genau das „Hier und Jetzt“ eröffnen, nicht wahr, weil wir nur auf das blicken, was uns fehlt.

Deshalb will ich jetzt auch nicht anfangen, selbst zu meckern und zu murren über uns Menschen und unser merkwürdiges Gedächtnis, sondern möchte lieber eine Geschichte mit Ihnen und Euch teilen, die auch davon handelt, wie wichtig die eigene Perspektive ist. Und es ist eine wie ich finde schöne Geschichte!

Ein Mann, der nach einem Unfall schon seit einigen Jahren blind war, lebte in einem kleinen Häuschen, zu dem ein wunderbarer Garten gehörte. Dieser war immer sein Ein und Alles gewesen, und selbst nach dem Erblinden verbrachte er jede freie Mi­nute draußen, schnitt die Rosen, harkte die Beete, pflanzte und goss, sodass der Garten über das Dorf hinaus bekannt war für seine Schönheit

Ein Mann aus der Stadt, der im Dorf zu Besuch war, hatte von dem blinden Gärtner gehört, und so stand er eines Morgens an seinem Gartenzaun. „Ich verstehe nicht ganz, was Sie da tun”, sagte der Städter zum Gärtner. „Sie können doch all die Pracht gar nicht sehen. Sie schuften den ganzen Tag für etwas, von dem sie gar nichts haben!”

Der Blinde lächelte: „Das sehe ich anders, mein Freund. Erstens liebe ich diese Arbeit, das Wühlen-in der frischen Erde, das Pflanzen und Ernten, und dass ich blind geworden bin, ist doch kein Grund, es nicht mehr zu lieben. Zweitens kann ich zwar nichts mehr sehen, aber ich kann fühlen, wie et­was wächst, ich kann die Zartheit der Rosenblätter spüren und vor allem ihren Duft genießen, und das wahrscheinlich sogar intensiver als Sie, weil ich nicht mehr durch meine Augen abgelenkt wer­de. Und der dritte Grund, warum ich weiterhin im Garten arbeite, sind Sie.”

Verblüfft fragte der Fremde: „Ich? Aber Sie ken­nen mich doch gar nicht!”

„Das stimmt”, antwortete der Gärtner, „ich meinte auch nicht Sie persönlich, sondern Men­schen wie Sie, die an meinem Garten vorbeikom­men und stehenbleiben, weil er sie in seiner Pracht erfreut. Wäre es eine Wildnis hier, niemand würde davon Notiz nehmen. Und daher sehe ich keinen Grund, etwas nicht zu tun, nur weil ich im ers­ten Moment davon nicht viel habe, wenn es Ihnen doch wenigstens ein bisschen Freude bringt. Und für mich ist das auch nicht ohne Nutzen: Menschen wie Sie bleiben an meinem Zaun stehen, schauen, freuen sich und halten einen kleinen Schwatz mit mir. Und das ist für einen Menschen, der blind ist, schon eine ganze Menge.”

„So hatte ich die Sache noch gar nicht betrachtet”, antwortete ihm der Fremde nachdenklich.

In der Geschichte von den murrenden Israeliten in der Wüste gab es dann die wunderbare Ernährung der Israeliten durch Wachteln, also Vögel, die auftauchten und durch das Manna, eine essbare Substanz, die sie in der Wüste fanden und sammeln konnten. Und die Geschichte erzählt es sogar sehr ideal. Egal, wie viel jemand von dem Manna gesammelt hatte, es reichte genau für den Tag bzw. für das Wochenende, denn am Sabbath wurde nicht gesammt! Keiner hatte zu viel und keine hatte zu wenig!

Also Ende gut, alles gut? Natürlich nicht, Menschen finden immer Gründe, um zu meckern und unzufrieden zu sein. Damals bei Moses Leuten in der Wüste, und bei uns heute ist es auch nicht viel anders! Schade eigentlich! Vielleicht sollte man sich an den guten Rat des alten Theodor Fontane halten:

Das Glück, wenn es mir recht ist, liegt in zweierlei: darin, dass man ganz da steht, wo man hingehört, und zum Zweiten und Besten in einem behaglichen Abwickeln des ganz Alltäglichen, also darin, dass man ausgeschlafen hat und dass einen die neuen

Stiefel nicht drücken. Wenn einem die 720 Minuten eines zwölfstündigen Tages ohne besonderen Ärger vergehen, so lässt sich von einem glücklichen Tage sprechen.

Eine gesegnete Zeit für Sie und Euch und immer gute Gründe zur Freude, offene Augen, diese Gründe auch wahrzunehmen und ein offenes Herz, sich zu freuen!

Ihr/Euer Pastor Schnoor