Liebe Leserinnen und Leser

„Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.“ (Lukas 12,48)

Der Wochenspruch, der uns in dieser Woche begleitet, erscheint auf den ersten Blick als normales Verhalten auch in unserer Gesellschaft. Selbstverständlich richten sich Erwartungen an den vorhandenen Fähigkeiten aus, die ein Mensch gezeigt hat bzw. zeigt.  Das beginnt im Kindergarten und hört nach Schul- und Studienzeit nicht auf. Wer immer zu den Fitten, den Schlauen, den Intelligenten und seelisch Starken gehört hat, von dem, von der erwartet man das irgendwann einfach

Diese selbstverständliche Erwartung an andere Menschen findet gerade bei den Olympischen Spielen wieder deutliche Beispiele. Die schon eingeplante Medaille wurde nicht erlaufen, erworfen, mit der Mannschaft geholt. Etwa die deutsche Hockeymannschaft, die nach mehreren Olympischen Spielen mit Medaillie dieses Mal keine Medaille bekommen hatte. Oder die Handballer, die gegen Ägypten deutlich im Viertelfinale verloren haben.

Ich habe das Spiel gesehen und war ein Paradebeispiel für das, was der Wochenspruch beschreibt. Ich hatte Erwartungshaltungen und war fuchsteufelswild, als diese nicht erfüllt wurden. Warum habe ich eigentlich nicht wahrgenommen, dass die deutschen Spieler eine extralange Saison hinter sich haben, dass sie kaum Vorbereitungszeit hatten, während die Ägypter über 2 Monate zusammen trainieren konnten und meist viel weniger hatten spielen müssen, also mehr Kraftreserven besaßen. Ich habe das alles nicht beachtet, sondern hatte meine Erwartungshaltung und war erbost, als sie nicht bedient und erfüllt wurde. Mir ist das erst später deutlich geworden, als ich etwa einige Berichte über die amerikanische Turnerin Simone Biles las, die im Mannschaftskampf nach dem ersten Gerät einfach aufhörte. Sie war die stärkste US-Turnerin, aber plötzlich konnte sie psychisch nicht mehr. Die Sicherheit war weg, es ging nicht. Sie ist damit offen umgegangen und betont, die psychische Gesundheit sei wichtiger als ein Wettkampf. Das Verständnis war groß, auch seitens ihrer Mannschaftskameradinnen, die jedoch ohne sie die schon sicher geglaubte Goldmedaille an die Russinnen verloren. Simone Biles ist dann einige Tage später in der Einzelentscheidung am Schwebebalken angetreten und hat die Bronzemedaille gewonnen. Als sie nach Tokyo gefahren war, hatte sie sicher mehr Medaillen erwartet und die US-Amerikaner auch. Diese einzelne Bronzemedaille ist weniger, als man erwartet hatte – und für Simone Biles ein großer Erfolg, den sie gegen ihre psychischen Probleme und einen vielleicht auch zu großen Erwartungsdruck erzielt hat. Sie hat auf ihren aktuellen Zustand gehört, sich gegen die Erwartungen von außen und innen entschieden und dennoch im Rahmen dessen, was für sie noch ging, das Mögliche erreicht.

Sich manchmal gegen die Erwartungen von außen und innen entscheiden müssen, weil es sonst zu viel wird, das gibt es nicht nur bei Sportlern und Sportlerinnen, sondern auch bei „normalen“ Menschen. Sogar ich kenne diese Situationen manchmal und erlebe dann beides: Menschen, die Verständnis haben, dass auch ich meine Grenzen besitze und sie manchmal erreicht und überschritten habe, aber auch Menschen, die einfach nur enttäuscht sind, dass ich Ihre Wünsche, Vorstellungen und Anliegen gerade nicht erfüllen kann oder auch einmal einfach nicht erfüllen will, weil mir gerade alles zu viel geworden ist. „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.“ Dem ist so! Und trotzdem ist es wichtig, sich auch gegen Ansprüche und Erwartungen abzugrenzen. Man tut dann das, was gerade geht. Bei Simone Biles etwa bestand das an dem Tag, als sie den Mannschaftswettkampf für sich abbrach, darin, dass sie in der Halle blieb und ihre Mannschaftskolleginnen angefeuert hat und dann versuchte, zu erklären, was mit ihr sei. Und einige Tage später ging dann schon wieder Schwebebalken.

Nicht mehr zu tun als geht, aber das zu tun, was geht, egal wie wenig es an dem Tag auch sein mag, das ist harte Arbeit für Menschen, die etwa in einer depressiven Phase sind.

Manchmal dauert es lange, um wieder aus diesem tiefen seelischen Tal herauszukommen, trotzdem weiterzumachen, viel langsamer als man es eigentlich von sich gewohnt war, aber dennoch Schritt für Schritt in dem Tempo, das möglich ist.

Wie war noch mal die Reaktion des Vaters, als sein jüngerer Sohn völlig abgerissen und total gescheitert wieder bei ihm auftaucht, um Arbeit und etwas zu essen zu bekommen? Dem Vater ist das völlig egal. Er rennt zu seinem Jungen, schließt ihn in die Arme, lässt ihn erst einmal versorgen und ihm „Wellness“ zugutekommen und feiert, als ob es die Olympische Goldmedaille gewesen wäre, die der Sohn mit nach Hause gebracht hatte statt mit leeren Händen dazustehen.

Mir hat da unter anderem die junge deutsche Skateboarderin gefallen, die gerade rechtzeitig für Olympia von einer Verletzung so weit genesen war, dass sie keine Schmerzen mehr hatte. Aber völlig fit war sie noch nicht und einen Trainingsrückstand hatte sie auch. Sie bekam natürlich keine Medaille, aber sie schaffte es ins Finale und konnte ihre Tricks zeigen. Am Ende war sie genau darüber glücklich. Und in drei Jahren kommt die nächste olympische Chance, zu zeigen, was man gelernt hat. Oder wie heißt noch mal das Olympische Motto? „Dabei sein ist alles!“

Und ich merke, ich kann auch gerade nicht mehr, und die Andacht wird diese Woche einfach etwas kürzer! Seien Sie barmherzig mit mit

Eine gesegnete Zeit für Sie und Euch:

„Tut das, was geht und gut ist!“!

Ihr/Euer Pastor Schnoor