Liebe Leserinnen und Leser

Am vergangenen Sonntag war der sogenannte „Israelsonntag, an dem die Geschichte des Judentums und die christliche Geschichte mit dem Judentum mit einem Zentrum auf dem Leiden der Jüdinnen und Juden liegt.

Es ist also genau der Blickpunkt auch auf die deutsche Geschichte, den viele Deutsche nicht mehr hören wollen und den einige Politiker unsäglich als „Fliegenschiss der deutschen Geschichte betrachten“. Ich frage mich, was in solchen Menschen vorgeht, die sich lieber in nationalistische Phantasiewelten flüchten, anstatt die reale Geschichte mit ihren Abgründen neben den guten Zeiten wahrzunehmen.

Gerade hier verdanken wir dem Judentum einen phantastischen Gedanken zum Thema „Aus der Geschichte lernen“:

Wer sich nicht erinnern will, ist verdammt, die Geschichte zu wiederholen!“ Wenn man antisemitische Worte und Taten im Deutschland der letzten Jahre nach dem Hochkommen rechter Populisten sieht, die der Meinung sind, es sei nun genug mit der Erinnerungskultur, kann man den Wahrheitsgehalt dieser Einsicht wohl kaum infrage stellen.

Dass jüdische Synagogen von bewaffneten Polizisten gesichert werden müssen in Deutschland, ist ein Armutszeugnis. Zugleich aber hat sich mit „Juden und Christen“ eine Begegnungs- und Gesprächskultur in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg entwickelt, die Mut macht, weil man begonnen hat, miteinander zu sprechen, aufeinander zu hören und sich selbst aus einer anderen, aber nicht völlig fremden Position sehen zu lernen. Die Fragen zu entdecken: Wo gehen wir eigentlich unseren eigenen Klischees voneinander auf den Leim und sehen einander in Zerrbildern? Was wissen wir wirklich voneinander? Eines meiner grundlegenden Aha-Erlebnisse waren die Konsequenzen aus der schlichten historischen Tatsache, Jesus von Nazareth, den wir als Christus verehren, war ein jüdischer Mann und von der jüdischen Tradition zutiefst geprägt. Wenn man das im Kopf hat, verändern sich die Aussagen der Bibel. Das ist enorm spannend und zeigt Jesus von einer für uns z.T. fremden Seite, denn seine Schüler und Schülerinnen waren auch jüdische Menschen und seine Familie waren jüdische Menschen und seine Passion und seine Hinrichtung sind Teil der jüdischen Leidensgeschichte. Und ohne das Judentum würde es kein Christentum geben! Wie gesagt, einige Aha-Erlebnisse, wenn man sich einfache historische Tatsachen bewusst macht bzw. einem diese Tatsachen von jüdischen Gesprächspartnern nahegebracht werden, die sich ihrerseits auf Christinnen und Christen und christliche Theologie eingelassen haben.

Natürlich haben wir Unterschiede! Das ist doch aber gerade das Spannende und für mich das Phantastische! Eine der Grunderkenntnisse in Auseinandersetzung mit jüdischem Denken, aber auch mit christlicher Theologie ist, dass Gott weit größer ist als alle unsere Bilder und Vorstellungen von ihm. Und mir ist anhand der Schöpfung deutlich geworden, dass Gott in der Schöpfung das Prinzip der Vielfalt verfolgt.

Wir Menschen wollen immer die eine optimierte Züchtung, Gott wählt die Vielfalt, die viel widerstandsfähiger ist als unsere Monokulturen und einen breiten Genpool bewahrt. Was bedeutet es eigentlich für die Religionen und uns Menschen? Vielleicht das, was die folgende kleine Geschichte zum Ausdruck bringt!

Im Wartezimmer Gottes

Ganz zuletzt, am letzten Tag, sitzen die würdigsten Vertreter aller Religionen und Konfessionen in einem Wartezimmer, wie bei einem Arzt, und die Tür ist noch verschlossen.

Jeder sitzt für sich und hat, statt der sonst üblichen Illustrierten, die eigenen Schriften dabei. Ja, auch die Thora, die Upanishaden, das Neue Testament, eine Auswahl von Suren des Koran … Darin blättern sie und heben immer wieder den Blick, lassen ihn kurz über die anderen hinweg schweifen und fragen sich: Wer wird wohl der Erste sein, der Zweite, wen ruft er als Letzten hinein? Wird die Zeit überhaupt reichen — es sind ja so viele — oder werden einige von uns hier nicht eingelassen werden? So sitzen sie da in diesem letzten Wartezimmer.

Fast könnte man meinen, trotz all der Stille und des friedlichen Eindrucks, sie belauerten sich. Sie tun es ja auch. Dann, nach langer, langer Zeit, geht die Tür auf und der Ewige ruft alle zu sich herein, alle auf einmal. Gott sieht sie alle an. Mag sein, dass er dabei sogar lächelt. Vielleicht aber auch nicht. Wer weiß das schon? Doch dann stellt Gott nur eine Frage: Warum habt ihr nicht miteinander geredet? Ihr hattet doch so viel Zeit.

Warum redet ihr nicht miteinander? Spricht Gott und schickt sie wieder zurück in das Wartezimmer, noch einmal zurück in ihr Leben, verlängert noch einmal die Zeit.

Wo das Wartezimmer ist? — Es ist doch hier, wir sind mittendrin!

Gute Frage! Warum reden wir lieber übereinander, als miteinander zu reden, als einander kennenzulernen. Vielleicht würden wir merken, wir sind gar nicht so verschieden. Vielleicht merkten wir, in Manchem sind wir schon ganz schön verschieden in unseren Ansätzen, und das hat jeweils Vorteile und Nachteile. Und vielleicht könnten wir manche Ideen auch aus anderen Religionen oder Konfessionen übernehmen, ohne dabei unseren eigenen Ansatz, unsere Identität verleugnen zu müssen. In der christlichen Ökumene ist das in den letzten Jahrzehnten immer wieder geschehen, in manchen Fragen konnte man sich annähern, auch wenn Unterschiede weiter bleiben. Aber zu sehen, dass das Gemeinsame oft viel mehr und viel grundlegender ist als das Trennende, verändert unser Verhältnis.

Ein Gedanke ist dafür aber grundlegend. Wir brauchen das offene Herz, Unterschiede als eine Bereicherung zu sehen, ansonsten werden wir sie als Gefahr betrachten und uns hinter unseren Glaubenslehren verschanzen wie in einer Wagenburg. Das würde der Zukunft der Welt, der Menschheit und des Glaubens nicht gut tun, wenn der/die Andere der/die Feind/in bleibt. Noch sind wir im Wartezimmer!

Es ist spannend, wie andere Meinungen die Perspektive manchmal erweitern können!

Allerdings muss man sie sich dafür erst einmal anhören!

Ein grundlegender Gedanke, für den man Zeit braucht. Darum gehe ich erst einmal in die Spätsommer-Pause für die Wochenandachten und melde mich wieder im September!

Eine gesegnete Zeit für Sie und Euch:

Ihr/Euer Pastor Schnoor