Liebe Leserinnen und Leser

In der letzten Woche gab es keine Wochenandacht, ich hatte eine Woche Urlaub und wir brachten unsere jüngere Tochter zu ihrem Studienort Leipzig zurück, um dort auch gleich selbst einige Tage zu verbringen, eine wunderbare Stadt!

Das führte aber dazu, dass ich den Reformationstag gottesdienstlich in diesem Jahr völlig verpasst habe. Wir fuhren vor den Gottesdiensten in Leipzig am Sonntag wieder gen Norden, und als wir dort ankamen, waren die Gottesdienste hier schon zu Ende.

Nun habe ich leider nicht erfahren, was die Kolleginnen und Kollegen in diesem Jahr zum Thema „Reformationstag“ zu sagen hatten, aber ich habe in einem meiner Materialhefte, mit denen ich mich auf Predigten und Gottesdienste vorbereite, eine kurze Rede zum Reformationstag von Michael Becker gefunden (Werkstatt für Liturgie und Predigt, Oktober 2021, S.318), die ich ausgesprochen schön fand und mit Ihnen und Euch teilen möchte.

Die Freiheit zur Liebe

 1. Manche Sätze vergehen nicht. Im heutigen biblischen Text steht einer davon: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Paulus schreibt das an kleine christliche Gemeinden in der Landschaft Galatien in der heutigen Türkei. Der Satz hat eine solche Größe, dass es erst einmal überhaupt nicht darum geht, ob wir das glauben können oder nicht oder ob wir Christus eine solche Freiheit zutrauen oder nicht. – Zur Freiheit hat uns Christus befreit, das ist sozusagen das Programm des Paulus. Er anerkennt einerseits, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft auch in verschieden Zwängen leben. Aber dann geht er darüber hinaus und behauptet eine Freiheit, die größer ist als unser Herkommen und unsere Zwänge. Paulus selber glaubt das. Das ist das Wichtigste. Er kennt seine Zwänge: seine jüdische Herkunft, die Krankheiten seines Körpers; dennoch geht er darüber hinaus und sagt: Christus macht mich frei. Er schenkt mir kein anderes oder besseres Leben, er schenkt mir aber in meinem Leben eine innere Freiheit.

 2. Manche Sätze vergehen nicht. Davon spricht auch ein Gedanke des Schriftstellers Elias Canetti. Er ist in einer jüdischen Familie im heutigen Bulgarien geboren, aber durch die Kriege im 20. Jahrhundert in Wien, London und Zürich aufgewachsen, wo er dann auch später lebte. Seine liebste Sprache war und blieb Deutsch. 1981 erhielt er den Literaturnobelpreis. In seinen Aufzeichnungen steht der Satz: „Es kann jeder Satz seine Wirkung tun, auch der vergessenste, auch in tausend Jahren.“ – Ich denke, dass Canetti recht hat und er mit diesem Gedanken auch die Verkündigung des Evangeliums berührt. Es mag sein, dass vieles an der Botschaft der Kirche vergessen wird oder untergeht; Wirkung aber kann kommen oder wiederkommen, auch noch in vielen Jahren.

 3. Unsere Kirche lebt nicht, weil sie diese oder jene Gestalt hat, weil sie Dome oder Gemeindehäuser oder Diakoniestationen hat. Das alles ist wichtig und hilfreich, aber zuletzt keine Hilfe zum Überleben der Kirchen. Unsere Kirche lebt, weil sie eine einzigartige Botschaft hat. Man kann sie vergessen, man kann aber ihre Wirkung nie völlig unterdrücken. Ein Satz dieser einzigartigen Botschaft ist von Paulus: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Glaubende Menschen ahnen oder wissen, dass sie – bei allen ihren Zwängen oder Verhinderungen oder Bequemlichkeiten – die eine große Freiheit haben, und zwar immer wieder haben und haben werden: die Freiheit zu lieben. Die Kirchen in der Welt leben von ihren Liebenden; also von den Menschen, die Gottes Botschaft ernst nehmen und seinen Willen zur Liebe erfüllen. Und das gerne und mit ganzem Herzen. Jede Liebe ist eine Erneuerung der Welt.

Eine wunderbare Rede, finde ich, und ich könnte es eigentlich dabei belassen. Aber ich kann es doch nicht, weil es mir ein bisschen zu schön und zu richtig und zu allgemein ist. Und außerdem kommen mir immer mal wieder Gedanken, die wir der Reformation verdanken, in den Kopf, und ich merke, wie aktuell und hilfreich ich sie in der jeweiligen Situation empfinde. Und Liebe und Freiheit sind immer sehr schöne Anknüpfungspunkte:

Der Gedanke der Reformation, an den ich mich dabei erinnerte, lautet (in meinem Gedächtnis): „Gott hasst die Sünde, aber er liebt den Sünder.“ Diese Unterscheidung ist für mich einer der zentralen Gedanken des Luthertums, weil er etwas einfordert, das Menschen, ja, auch wir Heutigen und gerade wir Heutigen, so gerne vergessen: Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Menschen und seinem Tun! Gott liebt den Menschen, auch wenn er sich von Gott getrennt hat (= Sünder ist). Das gilt immer! Auch dann, wenn die Taten und Positionen eines Menschen so sind, dass ich sie nur ablehnen kann. Und auch Gott ist alles andere als begeistert von dem, was wir so tun!

Auch wenn ich die Gedanken und Taten eines Menschen verwerflich finde, der Mensch selbst bleibt geliebtes Kind Gottes und hat seinen Wert aus der gleichen Quelle wie ich!

Diese Unterscheidung etwa in Gesprächen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen oder in Auseinandersetzungen zum Thema Corona-Impfung zu berücksichtigen, könnte diesen Debatten einiges von ihrer kleinkarierten Moralität gegenseitiger Verdammung nehmen. Und auch in anderen Diskussionen könnte diese Unterscheidung zwischen Mensch hier und Wort, Tat, Meinung dort hilfreich sein, um sich nicht als Menschen in fruchtlosen Gegensätzen zu zementieren. Keiner von uns hat die ganze Wahrheit! Und das schafft Freiheit im Umgang miteinander!

Ich kann versuchen, Menschen anderer Hautfarbe, Kultur, anderen Geschlechts oder anderer sexueller, politischer, religiöser oder sonstiger Orientierungen besser zu verstehen. Bei manchen fällt es mir leichter, bei anderen schwerer – und bei einigen verstehe ich sie überhaupt nicht. Und manches finde ich schlicht falsch! – jedenfalls jetzt noch, das mag sich zum Teil vielleicht im weiteren Laufe meines Lebens ändern!

Aber aus mir wird auf keinen Fall ein weiblicher schwarzer Teenager werden, ich habe meine Gene, mein Geschlecht, meine Hautfarbe, mein Alter usw. und das ist okay. Und aus anderen Menschen muss kein älterer weißer übergewichtiger Mann mit akademischer Ausbildung usw. werden, um okay zu sein. Es ist okay, verschieden zu sein und verschiedene Erfahrungen, Anschauungen, Vorlieben usw. zu haben.

Was unsere Aufgabe sein kann, macht die kleine Geschichte deutlich, mit der ich schließe:

In einer chassidischen Geschichte erzählt Rabbi Susja: “In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ,Warum bist du nicht Mose gewesen?’ Man wird mich vielmehr fragen: ,Warum bist du nicht Susja gewesen?’ Man wird mich nicht fragen: ,Warum hast du nicht das Maß erreicht, das der größte und gewaltigste Glaubende unserer Religion gesetzt hat?’ Sondern man wird mich fragen: ,Warum hast du nicht das Maß erfüllt, das Gott dir ganz persönlich gesetzt hat? Warum bist du nicht das geworden, was du eigentlich hättest werden sollen?'”

Ich denke, das ist die kleine Münze von Liebe als Erneuerung der Welt. Und auch an dieser Form haben wir noch jeden Tag genug zu üben!

Möge Gott uns die Weisheit schenken in guter Weise mehr wir selbst zu sein und andere sie selbst sein zu lassen. Es könnte interessant werden!

Ihr/Euer Pastor Schnoor