Liebe Leserinnen und Leser,

Nun ist es da, das Ende! Na ja, wenigstens das Ende des Kirchenjahres. Am vergangenen Sonntag hatten wir den Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres und dann folgen wie ein Countdown noch „Volkstrauertag/Zweitletzter So.“ und der letzte Sonntag des Kirchenjahres mit den Namen „Totensonntag“ bzw. „Ewigkeitssonntag“. Und es geht um die großen Fragen von Sinn und Wert des Lebens, von „Schlussbilanz“ mit dem Bild vom Gericht und vom Tod und der Hoffnung, dass er Durchgang zu neuem Leben und nicht absolutes Ende sei, wie es der christliche Glaube ja verkündet.

Ich finde es immer wieder berührend, wenn am Letzten Sonntag des Kirchenjahres die Namen derjenigen verlesen werden, die im letzten Kirchenjahr verstorben sind. Andere mögen das ganz anders sehen, aber für mich hält dieses Verlesen der Verstorbenen den Totensonntag und den Ewigkeitssonntag zusammen. Ja, wir denken an eine Vergangenheit, die so nicht mehr ist, und die trotzdem Teil des eigenen Lebens ist und bleibt (Erinnerung!) und im Blick auf die Verstorbenen – und uns selbst – werden wir darin noch einmal nach unserer Erwartung und unserer Sicht auf das Leben gefragt. (Hoffnung!) Und diese Ebene hat weniger mit dem zu tun, was wir nicht kennen – denn ob etwas und wenn ja was nach dem Tod ist, und was der Tod eigentlich wirklich ist, das wissen wir nicht, wir kennen nur die körperlichen Auswirkungen – sondern sie hat hauptsächlich mit unserem „Leben vor dem Tod“ zu tun. Es kommt nicht nur auf die Fakten an, sondern darauf, wie wir sie deuten. Das bestimmt unser Leben. Wenn mit dem Tod alles aus ist, dann haben wir Stress, weil wir alles Wichtige in den paar Jahrzehnten unterbringen müssen, von denen wir nicht wissen, wie viele es sein werden. Wenn aber unser irdisches Leben Teil von etwas Größerem ist (Wir kommen aus Gott und kehren zurück zu Gott, wie auch immer wir uns das vorstellen mögen!), dann geht es weniger darum, möglichst viel an Erlebnismenge zusammenzubekommen, sondern ganz im Hier und Heute zu leben und möglichst das Richtige zu tun (das Problem besteht allerdings darin, herauszubekommen, was das Richtige in dem Moment jeweils ist!).

Wir stehen am Ende des Kirchenjahres mit den Lebensfragen gegen Ende des Lebens. Und dann kommt Advent (=„Ankunft“!). Aber am Ende des Kirchenjahres ist der Schwerpunkt von „Advent“ ein anderer als im Advent. Denn dann geht es in erster Linie ja um die Vorbereitung auf Weihnachten. Am Ende des Kirchenjahres geht es nicht um Jesu Geburt, sondern um sein Wiederkommen, damit diese Wirklichkeit mit all ihren Problemen, Plagen, all ihrer Zerrissenheit und Ungerechtigkeit, endlich ganz in das Reich Gottes verwandelt worden sein wird.

Unsere Aufgabe ist, diese Vision von der Vollendung des Reiches Gottes in unserem Alltag zu leben. Wie wir das können? Vielleicht, indem wir uns den Blinden aus der folgenden Geschichte zum Vorbild nehmen?!

“Bitte warten Sie hier!” sagte ich zu dem Blinden und ließ ihn an einer verkehrsgeschützten Ecke des Großstadtbahnhofs allein. Ich wollte ihm das Gewühl ersparen auf dem Wege zum Schalter, zur Auskunft, zur Fahrplantafel und zur Post. Zurückkehrend sah ich ihn schon von weitem stehen, während die Menschen an ihm vorbeihetzten, ein Kind ihn anstarrte, ein Gepäckkarren einen Bogen um ihn fuhr und ein Zeitungsverkäufer nach einem irrtümlichen und vergeblichen Angebot fast scheu wieder von ihm wegging. Er stand ganz still, der Blinde, und auch ich musste ein paar Augenblicke stehenbleiben. Ich musste sein Gesicht ansehen. Die Schritte um ihn her und die unbekannten Stimmen und all die Geräusche eines lebhaften Verkehrs, die schienen für ihn keine Bedeutung zu haben. Er wartete. Es war ein ganz geduldiges, vertrauendes und gesammeltes Warten. Es war kein Zweifel auf dem Gesicht, dass ich etwa nicht wiederkommen könnte. Es war ein wunderbarer Schein der Vorfreude darin; er würde bestimmt wieder bei der Hand genommen werden. Ich kam nur langsam los vom Anblick dieses eindrucksvoll wartenden Gesichtes mit den geschlossenen Lidern; dann wusste ich auf einmal: So müsste eigentlich das Adventsgesicht der Christen aussehen!“

Ich liebe diese Geschichte, weil sie mir immer wieder ein Gefühl nahebringt, das ich in den guten Stunden meines Lebens habe und meist in dem mir eigenen Humor wiedergebe: „Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst!“ Oder wie es manchmal heißt: „Alles wird gut!“

Ich habe wenig überraschend dieses Gefühl von tiefem Urvertrauen auch angesichts all der dunklen Seiten dieser Welt nicht immer, aber doch manchmal, und das bewahrt mich davor, zu verzweifeln. Ich danke Gott für diesen Zug in meiner Persönlichkeit, und ich liebe in dieser Zeit am Ende des Kirchenjahres einige Lieder, die dieses Gefühl schon einige Male auch im dunklen November ausgelöst haben: „Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst!“

Den Text eines dieser Lieder möchte ich Ihnen und Euch mitgeben.  Wer es singen möchte, den verweise ich auf einige Videos auf YouTube, in denen man mindestens die Melodie hört, auf denen z.T. aber auch gesungen wird.

EG 154 Herr, mach uns stark im Mut, der dich bekennt

1. Herr, mach uns stark im Mut, der dich bekennt, dass unser Licht vor allen Menschen brennt! Lass uns dich schaun im ewigen Advent! Halleluja, Halleluja!

2. Tief liegt des Todes Schatten auf der Welt. Aber dein Glanz die Finsternis erhellt. Dein Lebenshauch bewegt das Totenfeld. Halleluja, Halleluja!

3. Welch ein Geheimnis wird an uns geschehn! Leid und Geschrei und Schmerz muss dann vergehn, wenn wir von Angesicht dich werden sehn. Halleluja, Halleluja!

4. Aber noch tragen wir der Erde Kleid. Uns hält gefangen Irrtum, Schuld und Leid; doch deine Treue hat uns schon befreit. Halleluja, Halleluja!

5. So mach uns stark im Mut, der dich bekennt, dass unser Licht vor allen Menschen brennt! Lass uns dich schaun im ewigen Advent! Halleluja, Halleluja!

Hoffnung, dass nicht nur unser eigenes vergängliches Leben aufgehoben ist in der Ewigkeit Gottes, sondern auch das Leben selbst mit all seinen Abbrüchen und Neuanfängen. Das ist für mich jedenfalls immer wieder eine Kraftquelle angesichts der Pandemie, die meine Geduld gerade einmal wieder strapaziert oder angesichts der Sorgen um die menschengemachten Klimaveränderungen oder die Fragen, ob wir als Kirche eigentlich noch eine Zukunft haben? (vielleicht das unwichtigste dieser Probleme für viele Menschen, aber wenn man wie ich schon über 25 Jahre bei Kirche arbeitet, ist es auch nicht unwichtig!).

Ohne diese Hoffnung würde ich mich wohl dem „Nach mir die Sintflut“-Zynismus ergeben, ich neige zu so etwas! Gott sei Dank, hält sich mein naives Urvertrauen in Gottes Zukunft, die ich nicht machen, an der ich aber mitarbeiten kann!

Und dieses Vertrauen gebe Gott Ihnen und Euch – auch im finsteren November! – und das „Adventsgesicht der Christ*innen“!

Ihr/Euer Pastor Schnoor