Liebe Leserinnen und Leser,

„Ankunft“, so die Bedeutung des lateinischen „Adventus“, des Advent. Da kommt etwas, da kommt jemand auf uns zu. Alle Jahre wieder oder immer noch.

In dieser Woche stellt sich die Frage, was noch alles ausfallen wird, denn in den vergangenen Tagen fielen Tag für Tag Veranstaltungen aus, die ich vor gar nicht so langer Zeit im Gemeindebrief angekündigt hatte und die die Adventszeit verschönern sollten: Konzerte, Adventsnachmittage, Gottesdienst in Verbindung mit einem Sonntagsfrühstück der AWO usw. Und die Ankündigungen weiterer Einschränkungen wegen der Entwicklung von Corona stehen bevor. Mal sehen, was denn überhaupt noch möglich sein wird!

Nicht ganz einfach, bei solchen Rahmenbedingungen weihnachtliche Sehnsucht aufkommen zu lassen, dass Gott wirklich bei uns ankommt, oder alternativ „Friede“, Harmonie, ein bei sich sein, allein oder in Familie oder was für Sie und Euch den Kern der je eigenen Weihnachtssehnsucht ausmacht, dass da etwas, dass da jemand kommen möge, auf das, auf den wir warten.

Auch im Bereich von Erzählungen, besonders wohl aus Russland, gibt es dieses Motiv, dass ein Mensch auf Gott wartet, weil dieser sich eingeladen hat. Also klassisches Weihnachtsmotiv: Gott kommt zur Welt, kommt zu uns! In diesen Geschichten geht aber immer irgendetwas schief, was meist mit den Erwartungen der Gastgeber zu tun hat. So etwa in der Geschichte „Schuster Konrad“, die ich für Euch und Sie herausgesucht habe.

An diesem Morgen war Konrad, der Schuster, schon sehr früh aufgestanden, hatte seine Werkstatt aufgeräumt, den Ofen angezündet und den Tisch gedeckt. Heute wollte er nicht arbeiten. Heute erwartete er einen Gast. Den höchsten Gast, den ihr euch nur denken könnt. Er erwartete Gott selber. Denn in der vorigen Nacht hatte Gott ihn im Traum wissen lassen: Morgen werde ich zu dir zu Gast kommen. Nun saß Konrad also in der warmen Stube am Tisch und wartete, und sein Herz war voller Freude. Da hörte er draußen Schritte, und schon klopfte es an der Tür.

“Da ist er”, dachte Konrad, sprang auf und riss die Tür auf. Aber es war nur der Briefträger, der von der Kälte ganz rot und blau gefrorene Finger hatte und sehnsüchtig nach dem heißen Tee auf dem Ofen schielte. Konrad ließ ihn herein, bewirtete ihn mit einer Tasse Tee und ließ ihn sich aufwärmen. “Danke”, sagte der Briefträger, “das hat gutgetan.” Und er stapfte wieder in die Kälte hinaus.

Sobald er das Haus verlassen hatte, räumte Konrad schnell die Tassen ab und stellte saubere auf den Tisch. Dann setzte er sich ans Fenster, um seinem Gast entgegenzusehen. Er würde sicher bald kommen.

Es wurde Mittag, aber von Gott war nichts zu sehen.

Plötzlich erblickte er einen kleinen Jungen, und als er genauer hinsah, bemerkte er, dass dem Kleinen die Tränen über die Wangen liefen. Konrad rief ihn zu sich und erfuhr, dass er seine Mutter im Gedränge der Stadt verloren hatte und nun nicht mehr nach Hause finden konnte. Konrad legte einen Zettel auf den Tisch, auf den er schrieb: Bitte, warte auf mich. Ich bin gleich zurück! Er ließ seine Tür unverschlossen, nahm den Jungen an der Hand und brachte ihn nach Hause.

Aber der Weg war weiter gewesen, als er gedacht hatte, und so kam er erst heim, als es schon dunkelte. Er erschrak fast, als er sah, dass jemand in seinem Zimmer am Fenster stand. Aber dann tat sein Herz einen Sprung vor Freude. Nun war Gott doch zu ihm gekommen.

Im nächsten Augenblick erkannte er die Frau, die oben bei ihm im gleichen Hause wohnte. Sie sah müde und traurig aus. Und er erfuhr, dass sie drei Nächte lang nicht mehr geschlafen hatte, weil ihr kleiner Sohn Petja so krank war, dass sie sich keinen Rat mehr wusste. Er lag so still da, und das Fieber stieg, und er erkannte die Mutter nicht mehr. Die Frau tat Konrad leid. Sie war ganz allein mit dem Jungen, seit ihr Mann verunglückt war.

Und so ging er mit. Gemeinsam wickelten sie Petja in feuchte Tücher. Konrad saß am Bett des kranken Kindes, während die Frau ein wenig ruhte.

Als er endlich wieder in seine Stube zurückkehrte, war es weit nach Mitternacht. Müde und über alle Maßen enttäuscht legte sich Konrad schlafen. Der Tag war vorüber. Gott war nicht gekommen.

Plötzlich hörte er eine Stimme. Es war Gottes Stimme. “Danke”, sagte die Stimme, “danke, dass ich mich bei dir aufwärmen durfte – danke, dass du mir den Weg nach Hause zeigtest – danke für deinen Trost und deine Hilfe – ich danke dir, Konrad, dass ich heute dein Gast sein durfte.”

Ich liebe diese Geschichten, weil sie auf eine zurückhaltend-freundliche Art und Weise die Fähigkeit haben, mich aus der Corona-Frustration dieser Tage wieder herauszuholen. Sie übersetzen meine Erwartungen in die wunderbare kleine Münze des Zusammenhangs zwischen der Gottes- und der Nächstenliebe. Gott ist da, wo ein Mensch zu meinem Nächsten wird.

Eigentlich ist das eine so simple Grundeinsicht – und trotzdem ertappe ich mich jeden Tag, und das oft mehrfach dabei, dass ich sie vergesse und stattdessen genervt bin, weil etwa einer der regelmäßig bei mir vorbeikommenden Obdachlosen zielsicher mal wieder einen Zeitpunkt erwischt hat, an dem ich gerade keine Zeit habe oder auch kein Bargeld im Haus (oder beides). Und wieder wird ein Mensch für mich dann ganz schnell zum Störfaktor, den ich schnell wieder loswerden möchte, weil ich ja mit so viel Wichtigerem beschäftigt bin – denke ich jedenfalls.

Deshalb brauche ich solche Geschichten, die mich erinnern, was ich noch viel weiter zu lernen habe für die Situationen, in denen ich Gottes- und Nächstenliebe noch so wenig zusammenbringe. Und hier noch eine Geschichte zur Erinnerung!

Auf einer Halbinsel des Comer Sees träumt die Villa Acronati einsam vor sich hin. Nur der Gärtner lebt da, und er führt auch die Besucher. “Wie lange sind Sie schon hier?” “24 Jahre.” “Und wie oft war die Herrschaft hier in dieser Zeit?” “Viermal.” “Wann war das letzte Mal?” “Vor 12 Jahren”, sagte der Gärtner. “Ich bin fast immer allein. Sehr selten, dass ein Besuch kommt.” “Aber Sie haben den Garten so gut instand, so herrlich gepflegt, dass Ihre Herrschaft morgen kommen könnte.”

Der Gärtner lächelt: “Oggi, Signore, oggi!” (Heute, mein Herr; heute!)

(Advent heißt: Ankunft des Herrn.)

Das finde ich einen wunderbaren Anspruch für Advent!

Habt eine trotz allem gute Woche und bleibt behütet!

Ihr/Euer Pastor Schnoor