Liebe Leserinnen und Leser

Es ist 14 Jahre her, dass ich eine Geschichte für die Karwoche 2008 auf meinem Computer abgespeichert habe. Sie heißt „Ecce Homo“ von Margarete Kubelka. Ecce homo (Siehe dieser Mensch) ist ein staunender Ausruf eines römischen Offiziers bei der Kreuzigung Jesu. Heute habe ich die Geschichte noch einmal gelesen und ich hatte den Eindruck, besser als diese Geschichte kann ich nicht ausdrücken, warum die Passion Jesu weiter höchst aktuell ist und das „für uns gelitten“ nicht überflüssig geworden ist. Darum nun diese Geschichte (von der ich leider nciht mehr die genaue bibliographische Angabe habe):

Der kleine Junge blickte ängstlich nach links und rechts, bevor er die Haustür hinter sich zu fallen ließ. Ob sie wohl kommen würden? Er hatte heute nicht die Zeit, den weiten Umweg über die Rosengasse und den Hirtenplan zu machen, die Mutter hatte einen fehlenden Knopf an seiner Jacke entdeckt und ihn rasch noch angenäht. „Du hast noch eine Menge Zeit, Daniel”, sagte sie, „es ist ja erst zwanzig vor acht.”

Warum erzählte er ihr da die Sache nicht von den beiden großen Jungen, die jeden Morgen auf dem Schulweg ihr Katz-und-Maus-Spiel mit ihm trieben und ihn verhöhnten und quälten? Er wusste selbst nicht, warum er schwieg, er schämte sich, ob für sich selbst oder für die beiden Quäl­geister, wusste er nicht genau. Als sie um die Ecke bogen, war er fast erleichtert. Die dumpfe Angst war nun Wirklichkeit geworden, sie waren da.

„Mach deinen Diener”, sagte der mit dem komischen Abzeichen auf der Jacke. „Inzwischen wirst du’s la wohl gelernt haben.” Er sprach in dem künstlichen, schleppenden Tonfall wie die Bösewichter mit den breitkrem­pigen Hüten in den Westernfilmen, und auch ihr breites Grinsen hatte er perfekt abgeguckt. „Na, wird’s bald?” hakte der andere nach und ließ einen dünnen Stecken durch die Luft sausen. „Ich will keinen Diener machen”, sagte Daniel kläglich und sah sich nach Hilfe um. „Na, da wollen wir dir mal ein bisschen helfen”, sagte der erste seine Rolle auf und packte Daniel im Nacken. Er bog seinen Kopf nach unten, tiefer, immer tiefer, bis der Kleine das Gleichgewicht verlor und in den Schmutz der Straße fiel. Da lag er noch immer, als das Gelächter seiner Peiniger längst verhallt war, eine jämmerliche kleine Gestalt in einer blauen Jacke, das Gesicht mit Dreck und Tränen verschmiert. ECCE HO­MO.

In der gleichen Stadt um die gleiche Zeit war ein dunkeläugiger Mann mit einem kleinen Schnauzbart dabei, in einem Selbstbedienungsrestau­rant eine Tasse Kaffee zu trinken. Er hatte kaum ein paar Schluck getrun­ken, als sich ein gleichaltriger Mann, ein Einheimischer, an seinen Tisch setzte. „Setz dich woanders hin, Kümmeltürke”, verlangte er, „ich will nicht gleich zum Frühstück deinen Knoblauchatem riechen.” „Ich haben mein Kaffee bezahlt”, sagte der Schnauzbärtige, „ich hier sitzenbleiben.” „Denkst du, Mohammed”, sagte der andere mit einem bösen Unterton in der Stimme. „Wolln wir mal sehen.” Dann nahm er die Kaffeetasse des Fremden und schüttete ihren Inhalt langsam und genussvoll auf den Boden.

Von den anderen Gästen rührte sich keiner, vielleicht hatten sie den kurzen Zwischenfall gar nicht wahrgenommen, vielleicht waren sie zu bequem, sich einzumischen, vielleicht hatten sie Angst vor dem aggressiven jungen Mann. Der Türke stand auf, einen Augenblick sah es fast so aus, als wolle er die Scherben der Tasse auflesen, dann ging er mit schleppendem Schritt, ohne sich noch einmal umzudrehen, zur Tür. ECCE HOMO.

In einer anderen Stadt ging eine junge Frau, die Überstunden gemacht hatte, nach Hause. Es war spät am Abend, und sie ging sehr schnell, weil das Haus, in dem sie wohnte, sehr abgelegen am Stadtrand stand. Sie konnte schon das bläuliche Licht des Fernsehapparats aus dem Wohnzim­mer ihrer Mitmieter sehen, als plötzlich aus dem schlecht beleuchteten Torweg von gegenüber die Gestalt eines Mannes auftauchte. Sie begann zu rennen, aber der Mann war schneller als sie.

„Na komm schon, Kleine”, sagte er und hielt sie am Ärmel ihres Mantels fest.

„Bitte lassen Sie mich gehen “, bettelte die Frau und versuchte sich loszurei­ßen. Bieratem schlug ihr ins Gesicht, der Mann griff fester zu, sie war ihm nun ganz nahe und sah, dass er ein ganz normales Gesicht hatte. Eines, wie man ihm täglich dutzendmal begegnet und das man gar nicht richtig wahrnimmt. „Stell dich nicht an und mach kein Theater”, sagte das Dutzendgesicht. „Ihr wollt das doch alle haben, mach mir nichts vor.” Ihre Handtasche fiel zu Boden. Plötzlich war Motorengeräusch zu hören, zwei Lichter näherten sich. Der Nachbar kam mit seinem Auto nach Hause. Der Mann verschwand in der Dunkelheit, aus der er gekommen war, und die junge Frau bückte sich, um ihre Tasche aufzuheben. Sie stolperte über den Randstein und fiel auf die Knie. So verharrte sie sekundenlang, eine knieende Gestalt im Rinnstein, die um etwas zu bitten schien. ECCE HO­MO.

Es geschah zur gleichen Zeit an vielen Orten, denn es war Abendbrotzeit und es sollte gegessen werden. Die alte Frau in dem sauberen Bett in dem sauberen Altenheim schüttelte abwehrend den Kopf. Sie hatte keinen Hunger und außerdem mochte sie keine Leberwurst. Na, komm schon, Oma”, sagte der junge Pfleger mit einer Stimme, die er für liebevoll und fürsorglich hielt. „Wirmüssen doch etwas essen, wir müssen doch bei Kräften bleiben.”

Die alte Frau wollte nichts essen und sie wollte auch nicht die Oma des jungen Mannes sein. Sie wäre gern eine Oma gewesen, aber sie hatte keine Kinder und keine Enkel, sie war unverheiratet und ganz allein. Aber diese Stimme, die Oma zu ihr sagte und die „wir” sagte, als sei sie ein ganz kleines Kind — „Wir haben aber heute brav unseren Brei gegessen!” — diese Stimme demütigte und verstörte sie. Sie hatte nicht immer „Oma” geheißen, sie hatte Frau Kniebis geheißen und sie wünschte sich nichts so sehr, als immer noch Frau Kniebis zu heißen. Und von diesem Leber­wurstbrot befreit zu werden, das nun stückweise energisch in ihren Mund geschoben wurde, und es nicht hinunterschlucken zu müssen zusammen mit dem verhassten Oma-Namen. Ihr Kopf sank zurück auf das Kissen, und sie schloss die Augen, um unter den Lidern das hervorzuholen, wonach sie so sehr verlangte: ihren ehemaligen Arbeitskollegen Müller oder ihre Nachbarin Ilse Littka oder den Briefträger Schaub, die ihr ein „Guten Morgen, Frau Kniebis” zuriefen. ECCE HOMO.

Es war nicht in dieser Stadt und nicht in diesem Land, wo ein Mensch wegen seiner politischen Einstellung schon seit drei Jahren in einer winzi­gen Zelle gefangen gehalten wurde. Die Zeit der Folter und der Schläge war vorüber, jetzt saß er nur noch in seinem Käfig wie ein Tier, abge­stumpft und zermürbt von der Gewissheit, dass man ihn vergessen hatte. Er memorierte Gedichte aus seiner Schulzeit, versuchte, lange Zahlen­reihen zu addieren, sagte die Namen seiner Bekannten auf, mit denen er gesprochen hatte, als er noch gelebt hatte. Manchmal verhedderte er sich bei einem Namen oder einer Zahl, wusste nicht mehr, ob da ein 1 oder ein Y am Schluss gewesen war oder ob er bei 625 angelangt war oder erst bei 620. Dann begann er geduldig wieder von vorn. Die Mauern schienen täglich näher zu rücken, er versuchte, ihnen auszuweichen, duckte sich, um nicht von ihnen erschlagen zu werden. ECCE HOMO.

Fünf Geschichten, fünf Menschen, die sie erleiden mussten, und doch nur eine Geschichte. Es geschah und geschieht in diesem Land, zu dieser Zeit, in anderen Ländern, zu jeder Zeit, dass Gott gekreuzigt, gedemütigt, ge­schlagen, verleumdet, vergessen wird. Jeder Schlag gegen einen kleinen Jungen ein Nagel durch die Hand, jeder Angriff auf eine wehrlose Frau ein Nagel durch den Fuß, jede Demütigung eines Fremden ein Peitschen­schlag, jede Unterdrückung eines Andersgesinnten ein Dorn im Fleisch, jede Nichtachtung eines alten Menschen ein Verrat an Gottes Ebenbild. ECCE HOMO.

Leiden und Kreuzigung Jesu sind historisch lange her und doch ein Symbol für das, war auch heute immer wieder geschieht. Leiden und Kreuzigung Jesu sind damals nicht das Ende gewesen, es geschah Ostern, Auferstehung. Darum geht es auch heute noch! Gesegnete Ostern!

Ihr/Euer Pastor Schnoor