Liebe Leserinnen und Leser

„Ich fühle mich, wie neu geboren!“ So habt Ihr, haben Sie es vielleicht schon einmal gehört oder selbst gesagt. Meist ist von solchem „wie neu geboren“ in Zusammenhängen die Rede, wo das Leben eigentlich dunkel, anstrengend, bedrohlich war, und sich kein Sinn zeigte. Und dann geschah etwas, und alles oder doch zumindest das Wesentliche hat sich verändert, die ganze Stimmung ist eine andere geworden. Da konnte etwa ein Konflikt endlich geklärt werden, der belastet hat, und die Beziehung ist zwar noch nicht wieder perfekt, aber doch viel entspannter – und das tut beiden Seiten gut! Oder eine Untersuchung ergab, dass es doch nichts Schlimmes ist, wie man selbst schon befürchtet hatte. Oder einfach ein schöner und entspannter Urlaub nach einer langen anstrengenden Arbeitszeit. Der Stress fällt ab von einem, der eigene Akku wird langsam wieder aufgeladen, vielleicht gab es auch noch Wellness für Körper und Seele?! „Ich fühle mich wie neugeboren!“

Zu diesem Thema gibt es im Evangelium nach Johannes ein nächtliches Gespräch im dritten Kapitel:

Unter den Pharisäern gab es einen, der Nikodemus hieß. Er war einer der führenden Männer des jüdischen Volkes. Eines Nachts ging er zu Jesus und sagte zu ihm:

»Rabbi, wir wissen: Du bist ein Lehrer, den Gott uns geschickt hat. Denn keiner kann solche Zeichen tun, wie du sie vollbringst, wenn Gott nicht mit ihm ist.«

Jesus antwortete: »Amen, amen, das sage ich dir: Nur wenn jemand neu geboren wird, kann er das Reich Gottes sehen.« Darauf sagte Nikodemus zu ihm: »Wie kann denn ein Mensch geboren werden, der schon alt ist? Man kann doch nicht in den Mutterleib zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden!«

Jesus antwortete: »Amen, amen, das sage ich dir: Nur wenn jemand aus Wasser und Geist geboren wird, kann er in das Reich Gottes hineinkommen. Was von Menschen geboren wird, ist ein Menschenkind. Was vom Geist geboren wird, ist ein Kind des Geistes. Wundere dich also nicht, dass ich dir gesagt habe: ›Ihr müsst von oben her neu geboren werden.‹ Auch der Wind weht, wo er will. Du hörst sein Rauschen. Aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. Genauso ist es mit jedem, der vom Geist geboren wird.«

Hier geht es nicht um „sich wie neugeboren fühlen“, sondern um „neugeboren sein“! Aber sofort ist das Missverständnis des Nikodemus da, das aus der wörtlichen Bedeutung von Geburt und ihrer Übertragung besteht. Das geht doch gar nicht…! Natürlich geht das nicht, man kann nicht die biografische „Rolle rückwärts“ machen und wieder ganz am Anfang anfangen und so tun, als habe es das bisherige Leben nicht gegeben. Also doch keine Möglichkeit auf das Himmelreich?

Jesus antwortete damals Nikodemus: Nur wenn jemand aus Wasser und Geist geboren wird, kann er in das Reich Gottes hineinkommen. Bei Markus heißt es Taufe und Glaube und ist verstanden als ein Zusammenspiel zwischen dem, was ein Mensch tun kann, sich taufen lassen, sich verändern wollen, denn damals war es vor allem die Erwachsenentaufe, und dem, was Geschenk Gottes ist, das Wirken des Geistes Gottes, d.h. die Wirkung einer Kraft, die mich das Leben, Gott, meine Mitmenschen und mich selbst völlig neu sehen lässt. Manchmal sind das Erfahrungen, wo Meinungen und Belastungen plötzlich von mir abfallen, weil ich einen inneren Aha-Effekt habe und Zusammenhänge endlich aus einer ganz anderen Perspektive sehen und verstehen kann – und mich dieser Perspektivwechsel befreit, so dass ich mich „wie neu geboren“ fühle. Etwa die Erfahrung, ich muss gar nicht bestimmte Leistungen erbringen, um geliebt zu werden, sondern erfahre „Liebe um meiner selbst willen“ ohne Vorbedingung! Das ist übrigens die Erfahrung, mit der die meisten von uns auf diese Erde gekommen sind: Wir leben davon, dass es Menschen gibt, die uns lieben; aber außer der Tatsache, dass wir da sind, habe wir als Säuglinge nicht viel Leistung vorzuweisen. Das gibt mir regelmäßig zu denken, ob nicht doch etwas in unserer Leistungsgesellschaft sehr verkehrt läuft!

Neugeburt heißt dann, sein bisheriges Leben und diese Welt anders sehen und bewerten und mit den gemachten Erfahrungen und der neuen Sehweise Veränderungen für das Leben zu beginnen, das noch vor mir liegt, um das im Vertrauen auf das zu leben, was ich erkannt habe. Genau das hat Jesus ja gemacht. Er ist dafür gestorben, weil die Machthaber diesen „alternativen Ansatz“ nicht ertrugen (tun sie heute auch meist noch nicht!). Und Ostern ist die Erfahrung, die Menschen seit damals immer wieder gemacht haben, dass Gott diesen Weg Jesu bestätigt hat. Er ist zum Vorbild des Menschen geworden, wie Gott ihn gemeint hat. Jesus hat Gott durch sich hindurch strahlen lassen wie das in der folgenden Geschichte als wunderschönes Bild für das Leben angesprochen wird.

Ein Glasmaler zeigte seiner kleinen Tochter seine Werkstatt. Sie hatte sehr große Fenster, und die Decke bestand aus lauter Glas, um möglichst viel Licht einzufangen. Auf einem großen Tisch lag ein ganzer Berg bunter Glasscherben – schief und krumm -, aus denen ein Kirchenfenster für einen Heiligen gefasst werden sollte. Es war schwer; sich vorzustellen, dass sie ein großes Ganzes werden könnten. “Du kannst mir helfen”, meinte der Vater; “reich mir nur vorsichtig ein Glas nach dem anderen an.” Dann setzte er die bunten Scheibchen auf einen mächtigen Karton, der die Umrisse einer Zeichnung erkennen ließ. Sie passten haargenau ineinander. Aber alles war noch dunkel und trübe. Der Vater lächelte: “Der liebe Gott muss mir noch etwas helfen. Du wirst sehen!”

Viele Wochen später ging er mit seiner Tochter in die Seitenkapelle einer Kirche. Er lenkte ihren Blick auf ein Fenster, das die Sonne gerade in den roten, blauen, gelben Gläsern wunderbar ausleuchtete. Der Vater nickte: “Das Fenster, an dem du mitgeholfen hast.”

Am unteren Rand des Fensterbildes, wo die Sonne nicht so stark hindurchscheinen konnte, war alles noch ziemlich dunkel. Aber je höher es ging, desto mehr begann es zu leuchten und zu strahlen. Bei einigen Gläsern musste man fast die Hände vors Gesicht halten, um den Glanz der blendenden Sonne auszuhalten. Die Tochter staunte.

“Siehst du”, begann der Vater wieder, “dieses Fenster haben wir gemeinsam geschaffen, weil du mir die Gläser angereicht hast. Ähnlich will Gott mit dir, mit mir und allen Menschen solch wunderbare Fenster malen.” Verwundert und ungläubig blickt die Tochter zu ihrem Vater auf. “Ganz im Ernst!” fuhr er fort, “jeder Tag, den Gott uns gibt, ist so ein kleines, buntes Glasstück. Wir geben ihm seine ganz besondere Farbe und schenken es am Abend Gott wieder zurück. Er setzt dann all die Gläser nach seinem Plan zusammen und macht nach und nach ein herrliches Fenster daraus. Dabei kommt es auch darauf an, dass wir das Licht der Sonne Gottes aufnehmen und es durchlassen. Dann fallen leuchtendeStrahlen in die Welt hinein. So wie dieser Heilige, den das Fenster zeigt, nie mehr von den Menschen vergessen wurde, weil er die Welt leuchtender, ja strahlender gemacht hat.”

Übrigens war für Luther jeder Tag ein Tag, an dem man sich auf die eigene Taufe zurückbesinnen und also von Neuem „geboren werden“ sollte! Gesegnete Osterzeit!

Ihr/Euer Pastor Schnoor