Liebe Leserinnen und Leser

Es ist mal wieder so weit – eine Woche, in der ich so viel zu schreiben habe, dass mir für die Wochenandacht selbst nichts Neues mehr einfällt. Nach einigen Ansätzen, die mich nicht weitergeführt haben, bin ich über etwas aus meinem Material für diese Woche gestolpert. Wir hatten am 1. Mai neben „Tag der Arbeit“ ja auch noch den Sonntag „vom Guten Hirten“, und in „Werkstatt für Liturgie und Predigt, Ausgabe 3-2022, Seite 91 und 92“ fand ich folgendes Bild mit begleitender Betrachtung:

Der Ladenhüterhirte (Henning Strunk)                                                       Foto: Silke Molnár

Gedanken zum Wochenspruch Johannes 10,11a.27-28a

Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben

 Schon seit vielen Wochen steht es in der hinteren Ecke einer Flohmarkthalle und wartet auf einen Käufer. Eine großformatige Darstellung von Jesus als dem guten Hirten, wie sie früher in manchem Wohnzimmer zu finden war. Das Bild wirkt wie aus der Zeit gefallen mit seinem weichgezeichneten und etwas kitschigen Stil. Sowohl die Art der Darstellung als auch die Bildersprache vom Schaf und den Hirten haben kaum noch eine Verbindung zu unserem modernen Alltag. Und so habe ich meine Zweifel, ob sich überhaupt noch eine Käuferin oder ein Käufer für diesen Ladenhüter findet.

Und doch gibt es offenbar etwas an diesem alten Motiv vom guten Hirten, das auch in unserer Zeit immer noch Menschen anspricht und berührt. Wenn in Gottesdiensten oder Trauerfeiern Psalm 23 gebetet wird, bin ich immer erstaunt, welche Kraft in diesem Bild vom guten Hirten steckt. Wenn wir gemeinsam beten: „ Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …“ lässt sich manchmal spüren, wie sehr diese alten Worte Trost, Geborgenheit und Vertrauen vermitteln.

 Auch Jesus beschreibt mit diesem Bild seine Beziehung zu den Menschen, die mit ihm verbunden sind: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.

 Ihm geht es vor allem um das Hören: Kaum ein Tier hat solche Probleme mit der Orientierung wie ein Schaf. Anders als z.B. eine Ziege ist ein Schaf auf Hilfe angewiesen, um seinen Weg nach Hause zu finden. Es ist angewiesen auf die Stimme des Hirten, von dem es Orientierung und Richtung erhält.

 Vielleicht ist diese Suche nach Orientierung und das Hören auf die richtigen Stimmen heute aktueller denn je.

In der Menschheitsgeschichte hat es noch keine Generation geben, die so vielen Stimmen und Meinungen ausgesetzt war wie die heutige. Den Menschen in unserer Gesellschaft erreichen nach wissenschaftlichen Erhebungen jeden Tag durchschnittlich 90–120 Werbebotschaften mit hirnphysiologisch nachweisbarer Wirkung. Derzeit wird jeder Deutsche pro Tag mit rund 6.000 Informationen konfrontiert. Dazu kommt das Phänomen der Fake-News, die es uns immer schwerer machen, in dem lauten Durcheinander der Stimmen und Meinungen die Orientierung zu behalten.

 So stellt sich die Frage: Welcher Stimme folge ich? In den sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram kommt es entscheidend darauf an, wem ich folge, auf wessen Nachrichten und Bilder ich mich einlasse. Diese Quellen beeinflussen die Art, wie ich denke, und den Weg, den ich gehe.

 Von daher kommt es für die Menschen, die sich an Jesus orientieren wollen, darauf an, seine Stimme aus den unzähligen Stimmen und dem Lärm der Zeit herauszuhören. „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir“, sagt Jesus. Diese Art von „Schaf-Sein“ hat nichts mit einem gedankenlosen Mitlaufen im Schutz der Herde zu tun, das auf eigenes Denken und Fühlen verzichtet. Es beschreibt vielmehr das Leben aus einem inneren Zentrum heraus, in dem ich mich mitten in allen Unsicherheiten und Kämpfen des Alltags geborgen und gehalten weiß. Es beschreibt das Wissen um eine Stimme, die es gut mit mir meint und die mir hilft, meinen Weg zu finden.

 Ich vermute, dass der Maler des Hirtenbildes, das immer noch in der Flohmarkthalle steht, genau das vor Augen hatte. Sein Bild mag in der heutigen Zeit ein Ladenhüter sein. Das Motiv vom guten Hirten ist es mit Sicherheit nicht.

Im Predigttext vom vergangenen Sonntag wird das auch bei einem österlichen Gespräch zwischen dem auferstandenen Jesus und seinem Schüler und Freund, Simon dem Felsen (=Petrus), deutlich, der ihn 4 Tage vorher 3x verleugnet hatte – er habe mit Jesus nichts zu tun. Kurz davor hatte er noch vollmundig verkündet, er sei bereit für Jesus zu sterben! In dem Gespräch fragt Jesus ihn nun 3x nach seiner Liebe: „Liebst du mich, Simon, Sohn des Johannes?“ Petrus, der bröckelige Felsen, bejaht dreimal und bekommt jedes Mal wieder neu den Auftrag: „Weide meine Schafe!“, sei für diejenigen da, die Deine Leitung benötigen, hilf ihnen, gerade weil Du selbst erfahren hast, dass das nicht immer so glatt läuft, wie man es gerne hätte! Nicht nur beim Schreiben einer Wochenandacht!

Ihr/Euer Pastor Schnoor