Liebe Leserinnen und Leser

Endlich Sommer! Die Natur steht in voller Blüte. Straßenfeste, Kieler Woche, Musikfestival und andere Veranstaltungen locken die Menschen aus ihren Häusern. Sommerfe­rien und Urlaubszeit kommen in Sicht. Warme Tage liegen hinter uns, pünktlich zur Kieler Woche wird das Wetter wieder etwas schlechter. Wir hatten gerade den 1. Sonntag nach Trinitatis, den Beginn der festlosen Zeit, so heißt es oft. Aber das stimmt nicht. Denn in dieser Woche haben wir mit dem 24. Juni einen Festtag, wenn auch keinen staatlichen Feiertag! Johanni/Johannestag oder auch Mittsommer! Am 24. Juni endet nicht nur die Spargelsaison, es erreicht auch die Sonne ihren höchsten Stand —und das bedeutet: Ab jetzt werden die Tage schon wieder kürzer, auch wenn es noch dauern wird, bis wir das wirklich merken. Hier heißt es ja, nach Brarup-Markt sei der Sommer fast vorbei. Aber Ende Juni ist auf jeden Fall Halbzeit des Jahres!

Halbzeit — das heißt bei sportlichen Wettkämpfen: Zwischenbilanz ziehen. Stimmt die Spielstrategie? Reichen die Kräfte? Ist genug Motivation vorhan­den? Oder muss die Taktik geändert werden? Vielleicht sogar die Mann­schaftsaufstellung?

Halbzeit — vielleicht sollten auch wir uns auf der Höhe des Jahres eine Atem­pause gönnen. Zurückblicken auf die erste Hälfte dieses Jahres: Welche Wei­chen sind gestellt? Bin ich zufrieden mit dem, was mein Leben ausmacht? Oder sind Veränderungen nötig, andere Spielstrategien für die zweite Hälfte des Jahres?

Wie sieht es Ende Juni 2022 aus? Die Coronazahlen gehen wieder hoch, von einer Sommerwelle wird gesprochen und die nächste Herbstwelle als feststehendes Faktum an die Wand gemalt. War es also doch zu riskant, sich wieder zu treffen und auch die Masken wegzulassen, gar Menschen zu umarmen, die man mag? Politisch ist immer noch der Ukrainekrieg im Vordergrund und die wirtschaftlichen Folgen bei uns, die Inflation, die Treibstoffpreise und die Angst, dass es im nächsten Winter kalt wird. Die Drohszenarien für Herbst und Winter werden in Stellung gebracht, auch von uns selbst.

Aber eigentlich ist doch in dieser Jahreszeit etwas anderes dran und auch Thema gerade dieser Woche. Halbzeit — um dieses Stichwort kreist auch ein Brauchtum, das älter ist als der christliche Glaube in Mitteleuropa, das aber von den Christen mit einer biblischen Deutung verbunden worden ist: der Mittsommertag, der Tag der Sommersonnenwende am 24. Juni, von den Christen als Johannistag bezeichnet Gerade in Skandinavien ein sehr wichtiges Fest mit einem uralten Brauchtum. Nach vorchristlicher Überlieferung geschieht am Tag der Som­mersonnenwende Besonderes: Berge öffnen sich, Tiere sprechen, und im Traum wird Zukünftiges sichtbar. Wer über das Sonnenwendfeuer springt, überwindet Unheil und findet Liebe. Johanniskraut, an diesem Tag gepflückt, wirkt als Heilmittel gegen vielerlei Beschwerden und vieles mehr!

Die christliche Tradition hat eine Gestalt der Bibel mit diesem Tag verbun­den: Johannes den Täufer, der ein halbes Jahr vor Jesus — also ein halbes Jahr vor Weihnachten! — geboren wird (Lukas 1,36). Der Vorläufer, der das Kommen eines Größeren ankündigt, aber auch der Asket, der sein Leben auf das Notwendige beschränkt, und aus der Wüste heraus das Vorbild eines anderen Lebens für Menschen gibt. „Umkehr“ ist der zentrale Begriff seiner Botschaft, ändert Euer Leben! Ändert die Wertmaßstäbe, nach denen Ihr lebt und an denen sich Euer Verhalten ausrichtet! Johannes sieht große Veränderung von Gott her auf die Welt zukommen, darauf sollen sich die Menschen vorbereiten. Das rituelle Zeichen der Umkehr ist die Taufe des Johannes. Untertauchen im Wasser als Zeichen, dass das alte Leben stirbt, auftauchen aus dem Wasser – ein neues Leben beginnt, alles Alte ist abgewaschen, ein Mensch kann ein neues Leben führen, die Richtung ändern, weil die alte Richtung als falsch erkannt wurde, „umkehren“ oder in älterer Formulierung „Buße tun“ – das meint nämlich das Gleiche.

Johannes ruft also die Men­schen zu Besinnung und Umkehr auf. Das sieht die christliche Überlieferung auch so, hat aus Johannes aber vor allem den Vorläufer auf Jesus gemacht. Sein Auftreten ist kein Selbstzweck, er kündigt das Kommen Jesu an: „ER muss wachsen, ich aber muss weniger werden.” (Johannes 3,30).

Das ist eine Haltung, die mich schon immer fasziniert hat, obwohl ich sie in verschiedenen eigenen Altersstufen mit unterschiedlichen Schwerpunkten gesehen habe. War es in meiner Jugendzeit eher eine „fromme“ Sichtweise, nach der ich lernen soll, meinen eigenen Willen mehr und mehr dem Willen Gottes unterzuordnen, kam später die Betrachtungsweise hinzu, mit der Papst Johannes der 23. im Traum gesegnet wurde, als er an den vielen Problemen seines Amtes fast zu verzweifeln drohte. Ein Engel sprach zu ihm: „Nimm dich nicht so wichtig!“ Für mich hat das die eigene Bedeutung immer wieder relativiert: Ich bin als Pastor nicht der kleine Lokalheiland, der mit seinem Tun über Heil und Unheil entscheidet, obwohl es natürlich auch nicht gleichgültig ist, was ist tue und lasse und wie ich mich verhalte. Nachdem Corona mich in meinem Amtsverständnis erst einmal in eine Krise gestürzt und die Tatsache, dass ich die 60 mittlerweile auch überschritten habe, ein Übriges getan hat, bin ich zu einem dritten Ansatz des Verständnisses von „ER/SIE muss wachsen, ich aber muss weniger werden.” gekommen. Dieser Ansatz geht davon aus, dass ich auch in den letzten Jahren als Pastor versuche, meine Aufgaben so gut wie möglich auszuführen und auch neue Impulse aufzunehmen. Aber gleichzeitig ist mir klargeworden, dass manche Neuerungen nicht mehr zu mir passen, dass neben meiner eigenen Zeit schon eine neue Zeit herläuft, die immer wichtiger werden wird, der erst einmal die Zukunft gehört. Ich erlebe das vor allem in den Unterschieden der Lebenseinstellung zwischen mir und meinen Töchtern. Bei manchen Dingen tue ich mich schwer, sie so ernst zu nehmen, weil ich es jahrzehntelang anders gemacht oder gesehen habe. Die Grundrichtung meines Lebens scheint da eher eingefahren. Aber ich merke doch auch, so schwer mir das manchmal fällt, dass da neue Herausforderungen und Probleme sind, die eine Veränderung des Lebensstils eigentlich notwendig machen. Die „Jüngeren“ leben mir da z.T. etwas vor, von dem ich merke: Ja, das ist heute und in Zukunft mehr dran, als meine eigene Lebensweise und meine eigenen Vorstellungen. Manches davon werde ich noch ansatzweise übernehmen können, manches auch nicht. Aber ich will den Jungen möglichst wenig im Weg stehen und sie da unterstützen, wo ich es kann.

„ER/SIE muss wachsen, ich aber muss weniger werden.” Vielleicht ist dieses Wort des Johannes auch für die Jahreshalbzeit heilsame Perspek­tive. Es könnte helfen, in der zweiten Halbzeit des Jahres manche Selbst­überforderung und manchen Krampf zu lassen, und unsere Kräfte auf das zu konzentrieren, was das Leben wirklich reich macht, was unsere Berufung, unser „Heil der Seele” ist. Vielleicht finde ich das Glück meines Lebens ja erst, wenn ich meine begrenzten Wünsche und Ide­ale — und auch meine persönlichen Enttäuschungen — hin­ter mir lassen kann. Und wenn ich die Freiheit gewinne, mich immer wieder staunend vom Leben überraschen zu lassen. Das könnte dann eine wirklich spannende zweite Halbzeit werden.

Ihr/Euer Pastor Schnoor