Liebe Leserinnen und Leser

Jede Woche hat ihren eigenen biblischen Vers, den sog. „Wochenspruch“, der mal mehr, mal weniger deutlich das Thema des Sonntags angibt. Am vergangenen Sonntag lautete der Wochenspruch: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Lukas 19,10)

„Die Rettung des Verlorenen“ als Thema des Sonntags und der Woche. Hand aufs Herz, was bewegt Sie, bewegt Dich, wenn Du das liest, wenn Sie das lesen? Ich bleibe beim Begriff „was verloren ist“ hängen, und das kommt bei mir ganz stark als Bewertung, gar als moralische Bewertung an, und wenn ich mich dann noch daran erinnere, dass Jesus von seinen Gegnern kritisiert wurde, weil er mit moralisch fragwürdigen Personen Umgang hatte, dann scheint das in der Bibel durchaus eine Rolle zu spielen: Die Menschen, die „verloren“ sind, das sind diejenigen, die den moralischen Maßstäben nicht genügen, die falsch leben, evtl. sogar kriminell sind. Es sind also Leute, die man mit ziemlicher Sicherheit nicht einladen würde, um etwa den eigenen Geburtstag zu feiern. Denn natürlich sind „die Verlorenen“ die anderen, zu denen ich selbst nicht gehöre! „Wir“ und „die da“, das ist die Unterscheidung, die einen, die zu „uns“ gehören, und die anderen, die nicht zu „UNS“ gehören. Es ist die Grundstruktur in uns, die unterscheidet und Menschen einordnet in Gruppen, die aufwertet oder abwertet, man könnte sagen „unser innerer Türsteher“, der bei Begegnungen spontan reagiert: Du darfst eintreten! Oder „Du kommst hier nicht rein!“  Und genau in diesem Zusammenhang ist mir eine kleine Geschichte über den Weg gelaufen, die ich wunderbar finde und mit Ihnen und Euch teilen möchte:

Ein Farbiger wünschte, in eine New Yorker Gemeinde aufge­nommen zu werden. Der Pfarrer war zurückhaltend. „Tja”, sagte er, „da bin ich nicht sicher, ob es unseren Gemeindemitglie­dern recht sein würde. Ich schlage vor, Sie gehen erst mal nach Hause und beten darüber und warten ab, was Ihnen der Allmächtige dazu zu sagen hat.”

Einige Tage später kam der Farbige wieder. Er sagte: „Herr Pfarrer, ich habe Ihren Rat befolgt. Ich sprach mit dem All­mächtigen über die Sache, und er sagte zu mir: Bedenke, dass es sich um eine sehr exklusive Kirche handelt. Du wirst wahrscheinlich nicht hineinkommen. Ich selbst versuche das schon seit vielen Jahren, aber bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen.”

Ich finde die Geschichte wunderbar, weil sie auf witzige Art den Finger in die Wunde der Abgrenzung zwischen „uns“ und „denen da“ legt und auf eine zweite Weise hinweist, wie man „was verloren ist“ auch verstehen kann und wie Jesus es aller Wahrscheinlichkeit nach verstanden hat.

Dafür ist es wichtig, eine ganz grundsätzliche Unterscheidung in das eigene Denken einzubauen: Die Grundunterscheidung zwischen einem Menschen und seinem Reden, Denken, Tun! Es ist im Blick auf den Begriff „verloren“ die Unterscheidung von „du bist verloren!“ und „du hast deinen Weg verloren!“

Im ersten Fall ist es ein Urteil, das wir über einen Menschen fällen, im zweiten Fall steht im Hintergrund immer die Möglichkeit, umzukehren, die Irrwege zu verlassen und den eigenen Weg zum Leben wiederzufinden. Jesus hat Menschen auf diesem zweiten Weg wahrgenommen und so ist denn wohl auch der Wochenspruch zu verstehen: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Aber mit der Bezeichnung „Menschensohn“ ist zugleich eine doppelte Ebene angesprochen: „Menschensohn“ das ist einer der Titel aus der jüdischen Bibel, vor allem aus dem Buch Daniel von einem himmlischen Richter. Dieser Titel wurde dann christlicherseits auf Jesus übertragen. Aber „Menschensohn“ = hebräisch „Ben Adam“ ist gleichzeitig auch eine Bezeichnung für „Mensch“ überhaupt! Jesus nimmt es also als seine Aufgabe wahr, Menschen zu helfen, Ihren Weg wiederzufinden, die ihren Weg durch ihr Tun und ihre Entscheidungen verloren haben und auf Irrwege gekommen sind. Aber das ist nicht seine spezielle Sonderaufgabe, sondern es ist Aufgabe jedes Menschen. Das ist im Kern die Grundbedeutung von Nächstenliebe und gleichzeitig die Haltung, die Gott uns Menschen gegenüber hat. Im „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ macht Jesus das deutlich, denn der Vater steht für Gott, für den es nicht zentral wichtig war, dass der Sohn ihn verlassen hat, sein Erbe verprasst und sein Leben „gegen die Wand“ gesetzt hat. Für den Vater ist allein entscheidend: Der Sohn kommt zurück, er hat ihn wieder! „Er war tot und ist wieder lebendig!“ Diese Sichtweise versucht der Vater dem älteren Bruder, dem Braven, dem Ehrbaren, dem Angesehenen nahezubringen. Das Gleichnis endet mit einer Frage des Vaters an den älteren Sohn und damit an die Zuhörer Jesu und die Leserinnen und Leser der biblischen Geschichte: Wie siehst du das? Falsch entschieden, Fehler im Leben gemacht, falsch abgebogen und anderen Menschen Schaden zugefügt = böser Mensch! = Mit Dir will ich nichts zu tun haben! – oder doch den Versuch machen, diesen Menschen aufzunehmen, wenn er, wenn sie umkehrt und versucht, den Weg zurückzufinden! Natürlich ist das immer ein Risiko, wenn ich einen Vertrauensvorschuss auf eine zweite Chance gebe! Die Frage lautet stets: Bin ich bereit, dieses Risiko einzugehen und einen Menschen nicht mit der Summe seiner falschen Entscheidungen und Taten zu gleichzusetzen, sondern so ihn oder sie so zu sehen, wie es ein Text von Hermann Josef Coenen ausdrückt:

Einen Namen hat jede Frau und jeder Mann und jedes Kind,

 jeder Arbeiter und Lehrling, jeder Mensch.

Nicht bloß Nummer! Unvertauschbar!

Nicht vom Fließband! Ganz einmalig.

Einen Namen hat er, weil er Mensch ist, gerufen von Gott.

Ansehen braucht jede Frau und jeder Mann und jedes Kind,

 jeder Müllmann, jeder Zivi, jeder Mensch.

Nicht bloß Luft sein, übersehen, nicht verachtet, keine Null sein!

Er braucht Ansehen, weil er Mensch ist, weil Gott ihn anschaut wie mich.

Würde hat jede Frau, jeder Mann, jedes Kind,

jeder Ausländer und Kranke, jeder Mensch.

Nicht weil er jung ist oder tüchtig, weil er Geld hat oder Titel.

Er hat Würde, weil er Mensch ist, von Gott geschaffen wie ich.

Will ich das so sehen? Kann ich danach handeln? So lautet die Frage an mich; an jedem Tag neu, bei jedem Menschen neu! Und! – Nein, damit bin ich nie fertig in diesem Leben!

Ich wünsche Ihnen und Euch gesegnete Sommerzeit

Ihr/Euer Pastor Schnoor