Liebe Leserinnen und Leser

Am Sonntag war ein Predigttext aus dem sog. „Alten Testament“, der Hebräischen Bibel an der Reihe zum Thema „moralisches Urteil“.

Moralisches Urteil ist hochaktuell. Sobald etwas gesagt oder getan wird, was den hohen moralischen Ansprüchen bestimmter Menschen (an Andere!) nicht erfüllt, ist die Empörung groß und die Forderung an den oder auch die Betreffende/n, sich öffentlich zu entschuldigen das Allermindeste! Am ungehemmtesten geht das via „Soziale Medien“ im Internet.

Moralisches Urteil ist aber auch nicht neu. Der Predigttext vom vergangenen Sonntag aus dem 2. Samuel-Buch Kapitel 12 beginnt mit einer Geschichte, die der Hofprophet Nathan dem König David erzählte:

»Zwei Männer lebten in einer Stadt. Der eine war reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder. Der Arme aber hatte nichts als ein kleines Lamm. Das hatte er sich gekauft und aufgezogen. Es wuchs bei ihm heran, zusammen mit seinen Kindern. Es aß von seinem bisschen Brot, trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß. Es war für ihn wie eine Tochter.

Eines Tages kam ein Reisender zu dem reichen Mann. Und es war üblich, ein Essen für den Gast zuzubereiten, der zu ihm gekommen war. Doch der reiche Mann wollte seinen Besitz schonen und keines von seinen Schafen und Rindern nehmen. Deshalb nahm er das Lamm des armen Mannes. Das bereitete er zu und setzte es dem Gast vor, der zu ihm gekommen war.«

Natürlich ist David empört, fordert den vierfachen Ersatz des Lamms durch den Reichen und außerdem die Todesstrafe für diesen Menschen: »So gewiss der HERR lebt! Ein Kind des Todes ist der Mann, der das getan hat! Und das Lamm muss er vierfach ersetzen – zur Strafe dafür, dass er das getan hat und das Lamm des Armen nicht verschonte.«

Davids Rechtempfinden ist völlig intakt. Ein solches Verhalten darf einfach nicht geduldet, sondern muss scharf sanktioniert werden! So weit, so nicht wirklich ungewöhnlich. Wie oft hast Du, haben Sie und ich uns schon über Menschen aufgeregt, die ihre Macht missbrauchen, die ihre Vorteile zu Lasten Anderer ausnutzen oder sich sonst eines in unseren Augen schlimmen Fehlverhaltens schuldig machen?! Eben!

Und dann kommt in der biblischen Geschichte die Pointe! Der Prophet Nathan sagt dem König David: „Du bist der Mann!“ Denn vor dieser Geschichte war es David gewesen, der seine Macht missbraucht hatte. Er, der über einen Harem mit etlichen Frauen verfügte, sah die schöne Bathseba beim abendlichen Bad. Die Dame war allerdings mit einem seiner Offiziere verheiratet, der sich praktischerweise jedoch gerade auf einem Feldzug gegen die Gegner des Königs David befand. So ließ David Bathseba in sein Schlafgemach bringen (er wird als König nicht lange gefragt haben! Wir sind also beim Thema Sexueller Missbrauch!). Aber Bathseba wird schwanger, und das passt David nun gar nicht in den Kram. Ein öffentlicher Skandal durch ihn den religiösen Vorzeigekönig? Das geht nicht! Also versucht er zu tricksen. Er gibt dem Ehemann Bathsebas mit Namen Urija Heimaturlaub in der Hoffnung, dieser würde mit seiner Frau schlafen, so dass er ihm das Kind dann als seines unterschieben und die Affäre geheim halten könnte.

Dummerweise war Urija einer von den ganz Anständigen, die es als unfair betrachteten, wenn sie etwas tun, was ihren Soldaten im Feld nicht möglich ist, nämlich mit ihren Frauen zu schlafen. Also rührte er Bathseba nicht an, und Davids Plan war dahin. Der allerdings schmiedete nun Plan B und ließ Urija auf ein Himmelfahrtskommando an vorderster Front schicken, von dem er nicht lebend zurückkommen würde. Dieser Plan ging auf, Urija verstarb planmäßig und David nahm die verwitwete Bathseba in seinen Harem auf, möglicherweise noch mit dem verlogenen Habitus, er der rechtschaffene König kümmere sich um die arme schwangere Witwe (davon steht allerdings nichts in der Bibel, da geht meine Phantasie einfach mit mir durch!).

David hatte also Ehebruch begangen und dann, um diesen zu vertuschen, auch noch die Tötung eines Untergebenen angeordnet und meinte, er käme damit davon.

Die Geschichte bringt es genau auf den Punkt, wie genau unser moralisches Empfinden im Blick auf andere Menschen und ihr Verhalten funktioniert, aber was für einen blinden Fleck wir manchmal im Blick auf eigenes Tun und Lassen haben können. Eine gleiche Struktur, nur ein bisschen Detailveränderungen – und schon merken wir nicht mehr, wie wir unsere eigenen moralischen Normen – und nicht zuletzt die göttlichen Gebote (nicht töten/nicht ehebrechen!) verletzen, ohne uns dessen bewusst zu sein!

„Du bist der Mann!“ Das ist die entlarvende Pointe der ganzen Geschichte. Sie legt uns nahe, zuerst einmal auf uns selbst zu schauen, ehe wir in vermeintlich berechtigter Empörung den Stab über andere brechen.

Haben wir uns zunächst mit David über den reichen Mann empört und uns dann noch einmal mit Nathan über Davids Verhalten aufgeregt? Vielleicht! Jedenfalls beherrschen wir diese Sicht der Dinge gut: Die anderen verhalten sich falsch.

Wir sind im Bedarfsfall ein Volk von 80 Millionen Nationaltrainer:Innen, Minister:Innen usw. und wir könnten es natürlich viel besser als die jeweiligen Amtsinhaber:Innen! Aber wir übersehen dabei gern, wie sehr wir von gewissen Unrechtsstrukturen persönlich profitieren.

Unser eigener ökologischer Fußabdruck in dieser Welt ist viel zu groß. Wir verbrauchen je nach Wohn-, Ess- und Mobilitätsgewohnheiten gerade zwei, drei oder viel mehr Erden mit unserem Lebensstil. Wir nehmen uns mehr als uns zusteht. Wir haben nur eine Erde. Sie wird ausgebeutet und geht kaputt. Den Generationen nach uns hinterlassen wir jede Menge Probleme und unser eigener Beitrag, diese Probleme möglichst klein zu halten fällt eher bescheiden aus, wenn es darum geht, den eigenen Wohlstand zu reduzieren. Die Güter der Erde sind unfair verteilt. Die Kolonisierung der Welt hat zu einem Ungleichgewicht geführt. Und wir haben diese Schieflage nie ausgeglichen und grundlegend geändert. Und das betrifft nicht nur “die Anderen“, sondern auch die einzigen Menschen an deren Verhalten wir etwas ändern können – UNS SELBST!

„Du bist der Mann, die Frau, der Mensch!“ Erkenntnis als Grundlage für Umkehr, für Änderung eines problematischen Verhaltens. „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ – das ist das Motto, mit dem Jesus nach dem Markusevangelium seine Verkündigung begann. Denn nur so kann sich etwas ändern – wenn wir bei uns beginnen, und nicht bei den Anderen!

Ich wünsche Ihnen und Euch eine gesegnete Woche

Ihr/Euer Pastor Schnoor