Liebe Leserinnen und Leser

Nun ist sie wirklich da, die Adventszeit, und in diesem Jahr gleich mit einem besonderen Beginn, Kirchengemeinderatswahl. Viel Vorbereitung – Danke an alle, die sich darum gekümmert haben und dafür sorgten, dass es rund lief. Danke an alle Gemeindeglieder, die zur Wahl gekommen sind oder per Briefwahl teilgenommen haben. Danke allen, die sich als Kandidatinnen und Kandidaten zur Verfügung gestellt haben, einige auch mit dem Risiko, nicht gewählt zu werden – nicht, weil sie schlechter wären, sondern weil sie nicht so bekannt sind! Eine Reihe von Kirchengemeinderäten ist nicht mehr angetreten, Danke für die Mitarbeit in den letzten ja z.T. herausfordernden Jahren!

Am 15. Januar wird es dann den Wechsel geben, der alte KGR (= Kirchengemeinderat) wird verabschiedet, der neue wird eingeführt und nimmt seine Arbeit auf. Dazwischen Advent und Weihnachtszeit.

Und als meine Frau und ich dann gegen 21.00 Uhr das Gemeindehaus am Abend des 1. Advent verließen und das mitnahmen, was am nächsten Tag zurückgegeben werden sollte (eine Wahlurne und zwei Wahlkabinen vom Amt – Herzlichen Dank! Und ein Aufsteller von der Firma Harmening – Danke Stefan und Anett!), da herrschte erst einmal ein Gefühl bei mir vor: „Geschafft“! Und dann konnte ich den Abend über doch nicht abschalten, sondern schaute zurück und phantasierte und plante voraus, bis es meinem Gehirn dann reichte, es müde war und ich einschlief.

Und nun ist Advent. Ist es nur eine Zwischenzeit vor Weihnachten? Oder die Voraussetzung, dass es wirklich Weihnachten werden kann und nicht bloß X-mas, das ähnlich klingende Konsumfest?! Auf jeden Fall wird es wieder eine ganze Reihe von Terminen geben, und Aufgaben, die noch bis zum 24. Dezember zu erledigen sind. Und die Adventskalender sind hoffentlich nette Begleiter durch die Tage und nicht der Countdown an der Wand, der die Spannung noch erhöht.

Und ich bin wieder über eine kleine Geschichte gestolpert („Träume“, Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten 10, Nr. 118, S. 81), deren Inhalt mir bekannt vorkommt, weil ich beides in mir habe, Realist und Träumer:

»Du bist ein Dummkopf«, sagte der Realist eines Tages zum Träumer. »Die Straße des Lebens ist nichts für Träumereien. Sie ist asphaltiert und gerade. Kurven lassen sich vorhersehen. Kreuzungen sind berechen- oder mindestens versicherbar.

»Du bist ein Dummkopf«, sagte der Realist zum Träumer. »Die Straßen des Lebens sind voller Hektik, gefährlich und eng — da ist kein Platz für große Träume.«

»Ja, gingen die Träume auf unseren Lebensstraßen — du hättest wahrschein­lich recht«, sagte der Träumer zum Realisten und sein Blick folgte dem Wol­kenflug.

»Aber bedenke, Träume haben keine Beine — Träume haben Flügel.«

Genau das ist meine Erfahrung besonders in der Advents- und Weihnachtszeit. Ich bin meist mehr oder minder realistisch unterwegs und denke und plane und habe die Schere im Kopf, so dass ich viele Wunder, denen ich eigentlich begegne, gar nicht mehr als Wunder wahrnehme. Mir ist bewusst, dass eigentlich so gut wie nichts selbstverständlich ist, aber gerade in der Adventszeit kommen diese Gedanken bei mir vermehrt an die Oberfläche. Ich möchte das Weihnachten erleben, dass ich nicht „machen“ kann, ich möchte die Tiefe erleben, in der das eigentlich Alltägliche (Lasst in der Weihnachtsgeschichte doch mal die Engel auf den Hirtenfeldern von Bethlehem weg, die die Weihnachtsbotschaft verkünden! Der Rest ist Alltag!) in meine Welt kommt und ich meinen Alltag mit neuer Tiefe erfahre und leben kann. So wie in „Geschichte Nummer Zwei“ („Zweierlei Sichten“, Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten 10, Nr. 129, S. 89):

Papst Johannes Paul I. hat einmal von zwei Bergsteigern berichtet: Beide klettern auf einen Berg …

Zurückgekehrt sagt der Erste: »Was ich gesehen habe? Oh, nichts Besonde­res: ein paar Seile, Bäume, Wasser, Wiesen, einen Haufen Himmel — sonst nichts«, und er gähnt.

Der Zweite sagt: »Was ich gesehen habe, das werde ich nie mehr vergessen: Felsen und wieder Felsen, Wiesen und Wasser, die Sonne und das Blau des Himmels und alles voller Wunder.«

Und während er so spricht, sieht er so aus, als ob große Wunder immer noch aus seinem Gesicht und seinem Herzen leuchten.

Zwei Menschen sehen das Gleiche, für den Einen ist es nichts Besonderes, für den Anderen ist es ein Weg voller Wunder. Die Sichtweise, die wir wählen und im Alltag einüben, wird unsere Wahrnehmung und Haltung prägen und tut es bereits, seitdem wir auf der Welt sind. Die Frage lautet also: Welche Sichtweise möchte ich kultivieren?

Mir helfen bei der Kultivierung der Sicht, die das Wunder im Alltag wahrnimmt (oder es zumindest versucht!) vor allem in der Advents- und Weihnachtszeit – aber nicht nur! – Geschichten oder meditative Texte anderer Menschen. Mit einem solchen Text möchte ich für heute schließen (Andrea Schwarz, „… und im Dunkeln strahlt ein Licht“, in Für jeden leuchtet ein Stern, Herder Vlg., 2006, Seite 129-130):

Gott nimmt uns unsere Dunkelheiten nicht. Es bleiben Krankheit und Tod, Angst und Einsamkeit, Missverständ­nisse und Verletzungen. Das ist menschlich. Die Begren­zungen unseres menschlichen Lebens stehen in Spannung zu unserer Sehnsucht nach Unbegrenztheit. Wir träumen davon, dass die Freiheit grenzenlos sein mag — und stoßen uns dann den Kopf blutig, wenn wir mit diesem Traum an die Grenzen unserer menschlichen Existenz stoßen.

Aber gerade die Begrenzungen unseres Lebens machen unser Mensch-Sein aus: Gäbe es den Tod nicht mehr, wä­ren wir Gott — aber keine Menschen. Wären wir vollkom­men, allmächtig, stark — dann wären wir Gott, aber keine Menschen mehr. Kennzeichen unseres Menschseins ist gerade unsere Gebrochenheit. Und diese Gebrochenheit, den Tod, diese Grenzen kann uns keiner nehmen, wenn er uns nicht unser Menschsein nehmen will. Jede Religi­on, jeder Guru, jede Sekte, die das verspricht, lügt.

Keiner kann uns das Dunkel des Lebens nehmen. Hier auf der Erde werden bleiben Tod und Einsamkeit, Krank­heit und Grenze.

Und unser Gott hat uns das auch nie versprochen. — Er führt uns durch den Tod zum ewigen Leben — aber er kann den Tod nicht wegnehmen. Er nimmt uns unser Dunkel nicht — aber er selbst kommt als Licht in unsere Dunkel­heit.

Und das ist die radikale Botschaft des Weihnachtsfestes: Dieser Gott kommt aus seiner Unbegrenztheit in die Be­grenzungen unseres menschlichen Lebens hinein, damit wir sie besser aushalten und leben können. Er selbst wird Mensch und unterwirft sich, bei aller Göttlichkeit, menschlichen Begrenzungen. Er weint und leidet, er hat Angst und wird verraten, er ist einsam und unverstanden. Er wird Kind in einer armseligen Krippe im Stall — und stirbt einen qualvollen Tod am Kreuz … Dieser Gott ist so stark, dass er sich schwach machen kann — in einem Kind in der Krippe, im Gekreuzigten auf Golgota.

Eine gesegnete Adventszeit mit Zeit für Wunder im Alltäglichen!

Ihr/Euer Pastor Schnoor