Liebe Leserinnen und Leser

Die Adventszeit und Weihnachten sind für viele Menschen eine emotional besondere Zeit. Ich beobachte es bei anderen Menschen, aber auch bei mir. Vielleicht ist es die Geschichte von der Geburt des Gottessohns in einem zugigen Stall, die das Mitempfinden für Menschen in Not gerade in diesen Wochen besonders anspricht. Und auch die speziellen „Weihnachtsfilme“ bedienen oft ausgiebig eine bis ins Kitschige gehende sentimentale Gefühlswelt, wie etwa „Der kleine Lord“, den ich in Buchform schon als Kind gelesen habe.

Das Kind, das die harte Schale seines einsamen reichen Großvaters durchbricht und für neues Leben für ihn und auch für die von ihm abhängigen Landarbeiterfamilien sorgt.

Überhaupt scheinen Geschichten aus dem turbokapitalistischen England des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts für die soziale Komponente des Weihnachtsfestes ein besonders guter Hintergrund zu sein, weil hier Weihnachten als „Fest der Liebe“ dem kalten rationalen Denken, das nur auf Nützlichkeit und Profit aus ist, als Kontrapunkt entgegengesetzt wird. Sehr eindringlich und bis heute immer wieder in Filmen aktualisiert hat dies wohl Charles Dickens mit „A Christmas Caroll“/ “Eine Weihnachtsgeschichte“ und der Person des alten Ebenezer Scrooge getan. Scrooge ist ein hartherziger Geizkragen. Seinem unterbezahlten Angestellten Bob Cratchit droht er regelmäßig mit Kündigung, wenn dieser es auch nur wagt, einen Blick auf den Kohlenkasten zu werfen, um vielleicht das bitterkalte Kontor damit etwas aufzuheizen (was für eine Aktualität im Winter 2022/23!); seine bedürftigen Mitmenschen betrachtet er mit zynischer Geringschätzung, und Weihnachten hält er für geld- und zeitverschwendenden Humbug. Diesem hartherzigen Mann begegnen nach dem Geist eines verstorbenen Geschäftspartners, der ihn warnt dann drei Geister der Weihnacht (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), die ihn zu zentralen Weihnachten seines Lebens führen. Ihm wird schließlich angesichts seines eigenen Grabes in der Zukunft, in dem er als ein von allen verabscheuter Mensch liegt, deutlich, wohin sein gieriges, geiziges Leben führen wird. Er kehrt zurück in seine Gegenwart und verändert sein Leben.

Aber es gibt eine andere kleine Geschichte von Charles Dickens, die ohne die Brechstange von Angst vor dem Tod auskommt, um zu zeigen, was Weihnachten bedeuten kann. Sie ist nicht so berühmt wie „A Christmas Caroll“, aber mein Herz berührt sie mindestens genauso stark, wenn nicht noch stärker!

Die Apfelsine des Waisenknaben (Charles Dickens, in: Unsere schönsten Weihnachtsgeschichten zum Vorlesen, Herder Vlg. 2018, S. 23-24)

„Schon als kleiner Junge hatte ich meine Eltern verloren und kam in ein Waisenhaus in der Nähe von London. Eher war es ein Gefängnis. Wir mussten 14 Stunden täglich arbeiten — im Garten, in der Küche, im Stall, auf dem Felde. Kein Tag brachte eine Abwechslung, und im ganzen Jahr gab es für uns nur einen einzigen Ruhetag. Das war der Weihnachtstag. Dann bekam jeder Junge eine Apfelsine zum Christfest. Das war alles, keine Süßigkeiten, kein Spielzeug. Aber auch diese eine Apfelsine bekam nur derjenige, der sich im Laufe des Jahres nichts hatte zu Schul­den kommen lassen und immer folgsam war. Die Apfelsine an Weih­nachten verkörperte die Sehnsucht eines ganzen Jahres.

So war wieder einmal das Christfest herangekommen. Aber es bedeutete für mein Knabenherz fast das Ende der Welt. Während die anderen Jungen am Waisenvater vorbeischritten und jeder seine Apfelsi­ne in Empfang nahm, musste ich in einer Zimmerecke stehen und zuse­hen. Das war meine Strafe dafür, dass ich eines Tages im Sommer hatte aus dem Waisenhaus weglaufen wollen. Als die Geschenkverteilung vorüber war, durften die anderen Knaben im Hofe spielen. Ich aber musste in den Schlafraum gehen und dort den ganzen Tag über im Bett liegen bleiben. Ich war tieftraurig und beschämt. Ich weinte und wollte nicht länger leben.

Nach einer Weile hörte ich Schritte im Zimmer. Eine Hand zog die Bettdecke weg, unter der ich mich verkochen hatte. Ich blickte auf. Ein kleiner Junge namens William stand vor meinem Bett, hatte eine Apfel­sine in der rechten Hand und hielt sie mir entgegen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Wo sollte eine überzählige Apfelsine hergekommen sein? Ich sah abwechselnd auf William und auf die Frucht und fühlte dumpf in mir, dass es mit der Apfelsine eine besondere Bewandtnis haben müsse. Auf einmal kam mir zu Bewusstsein, dass die Apfelsine bereits geschält war, und als ich näher hinblickte, wurde mir alles klar, und Tränen kamen in meine Augen, und als ich die Hand ausstreckte, um die Frucht entgegenzunehmen, da wusste ich, dass ich fest zupacken musste, damit sie nicht auseinanderfiel.

Was war geschehen? Zehn Knaben hatten sich im Hof zusammen­getan und beschlossen, dass auch ich zu Weihnachten meine Apfelsine haben müsse. So hatte jeder die seine geschält und eine Scheibe abge­trennt, und die zehn abgetrennten Scheiben hatten sie sorgfältig zu einer neuen, schönen runden Apfelsine zusammengesetzt. Diese Apfelsine war das schönste Weihnachtsgeschenk in meinen Leben. Sie lehrte mich, wie trostvoll echte Freundschaft sein kann.“

Die Apfelsinenscheibe hat die Jungen viel gekostet, und so ist es auch mit Weihnachten.

Das Geschenk, um das es eigentlich geht, ist Jesus von Nazareth, Kind in der Krippe in Bethlehem, Zimmermann, Wanderprediger und Wunderheiler, der Gott seinen „Papa“ nannte und darauf vertraute, dass die Liebe dieses „Papa“ allen seinen Kindern galt, egal, wie weit sie sich von Gott, von einander und sich selbst entfernt haben mochten mir ihrem Leben. Jesus von Nazareth, der zur Hoffnung der Armen und Außenseiter (und einiger Höhergestellten) wurde, den die Machthaber dann aber beseitigten und als Aufrührer hinrichteten, weil er das System störte. Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte, der elend Gescheiterte und schnell Verscharrte, dessen Anhänger flohen und sich versteckten. Nur einige Frauen wollten ihm den letzten Liebesdienst an Verstorbenen erweisen und fanden seinen Leichnam nicht mehr. Stattdessen gab es die Botschaft „Er ist nicht tot, er ist von Gott auferweckt worden“. Später hieß es: „Er ist auferstanden!“ und das wurde zur Parole derer, die erst „der Weg“ genannt wurden und später „die Christen“.

Jesus von Nazareth, der Christus, der Gesalbte, der „Sohn Gottes“, weil sich Gott in ihm auf das Leben seiner Menschen in all seinen Facetten eingelassen hat. Gott gibt sich selbst und nicht nur eine Orangen-Scheibe, aber die Absicht ist die gleiche, eine Geste der Liebe und Freundschaft für jedes einsame, gedemütigte Menschenkind als Impuls für ein Leben, das mehr ist als Arbeit, Kampf, Mühsal, Verachtung, Armut, Demütigung und Einsamkeit.

Ganz sicher geht Weihnachten nicht auf in einer Geschichte wie der von der Apfelsine des Waisenknaben, aber Weihnachten begann mit einer Geschichte, die auch mit einem Kind und Liebe, Hoffnung und Freundschaft gerade für die am Rande zu tun hat.  Daran erinnert zu werden, Jahr für Jahr, ist sicher nicht die schlechteste Seite an Weihnachten!

Eine gesegnete letzte Adventswoche und die Herzen öffnende Weihnacht!

Ihr/Euer Pastor Schnoor