Liebe Leserinnen und Leser

Sie haben es gemerkt, und Ihr auch! In den letzten Wochen fielen die Wochenandachten aus, ich war mit Beerdigungen und Weihnachten beschäftigt und zwischen den Jahren „geistig platt“. Aber ein Neues Jahr hat begonnen, und ich versuche, Sie, Euch und mich wieder in den Blick zu nehmen.

Denn sehen und – mehr noch – gesehen werden, ist für uns Menschen sehr wichtig. Wenn ich nicht wahrgenommen werde, übersehen werde, übergangen werde, dann zerrt das am eigenen Selbstbewusstsein. Besonders bei Kindern und Jugendlichen ist das Gefühl „ich werde gesehen/wahrgenommen/wichtig genommen!“ ganz besonders wichtig, um eine gesunde Beziehung zu sich selbst, ein stabiles Selbstbewusstsein aufzubauen. Die Kehrseite dieses Bedürfnisses, gesehen zu werden, kennen wir aber wahrscheinlich auch alle: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, die sich nicht wahrgenommen, nicht gesehen fühlen und dann mit allen Mitteln Aufmerksamkeit provozieren – und es muss nicht die positive Aufmerksamkeit sein! Hauptsache ich werde wahrgenommen, auch wenn die Wahrnehmung in Unverständnis oder Missbilligung besteht!

Die Jahreslosung für 2023 nimmt also ein tiefsitzendes menschliches Bedürfnis auf, wenn es dort heißt: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Was für Gedanken und Gefühle löst das aus? Wie es bei Ihnen und Euch ist, weiß ich natürlich nicht. Bei mir merke ich, dass der Satz, wenn ich ihn ganz allgemein lese, leicht zu einer Behauptung wird – Gott sieht alles, also auch mich! Und das löst durchaus widerstrebende Gefühle bei mir aus, so wie bei dem Vers Psalm 139,5: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Da nehme ich einerseits das Gefühl von Geborgenheit in allen Lebenslagen wahr, aber auch klaustrophobische Tendenzen, d.h. es wird mir zu eng, ich fühle mich eingeengt und gefangen. Ist dem Psalm-Dichter wohl auch so gegangen, denn in den nächsten Versen beschreibt er seine vergeblichen Versuche, Gott zu entkommen, als Flucht, die nicht gelingt, weil Gott überall ist.

Als Satz zur „Allwissenheit“ Gottes kommt mir unsere Jahreslosung also nicht wirklich nahe. Aber wenn ich mir den Zusammenhang, die Geschichte anschaue, in der dieser Satz begegnet, ist das schon etwas anderes!

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“, das steht in den Geschichten von Abram/Abraham und Sarai/Sara (die Namen wechseln im Laufe der Geschichte!), die in hohem Alter ihre Heimat verlassen, weil sie alles hatten, außer Kinder! Damit war ihnen die Zukunft versperrt, so die damalige Grundhaltung. Aber Abraham hatte von Gott das Versprechen auf Kinder bekommen. So waren sie losgezogen ins „Verheißene Land“, wo sie nun schon 10 Jahre unterwegs und noch älter geworden waren. Was Nachkommen betraf, hatte sich nichts verändert, eine ewige Spirale von Hoffnung und Enttäuschung! Und irgendwann hatte Sara genug und wollte der göttlichen Verheißung auf die Sprünge helfen. Denn sie hatte eine ägyptische Sklavin namens Hagar, und es gab den Gedanken der „Leihmutter“. D.h. Abraham schwängerte Hagar, die gebar das Kind in unmittelbarer Gegenwart Saras, und das Kind kam als legitimes Kind von Abraham und Sara in die Erbfolge. Hagar war Sklavin, musste also nicht gefragt werden und wurde nicht gefragt. Dafür aber wurde sie schwanger. Diese Situation veränderte nun allerdings einiges, denn die schwangere Hagar zeigte nun ihrer unfruchtbaren Herrin gegenüber ein Verhalten, das diese provozierte. Oder kam Sara mit der neuen Situation, die sie ja selbst angeschoben hatte, einfach nicht zurecht? In der Bibel heißt es (1. Mose 16, 4-6): Abram schlief mit Hagar, und sie wurde schwanger. Als sie merkte, dass sie schwanger war, sah sie auf ihre Herrin herab. Da sagte Sarai zu Abram: »Mir geschieht Unrecht, und du bist schuld. Ich war es doch, die dir meine Magd gegeben hat. Kaum ist sie schwanger, sieht sie auf mich herab. Der HERR soll zwischen dir und mir entscheiden!« Abram antwortete Sarai: »Sie ist deine Magd und in deiner Hand. Mach mit ihr, was du für richtig hältst.« Daraufhin behandelte Sarai ihre Magd so schlecht, dass diese ihr davonlief.

Hagar flieht also, und zwar in die Wüste und bleibt an einer Quelle. Dort wird sie von einem Engel angesprochen, der sich nach ihr erkundigt, sie aber zurückschickt, weil Flucht für die Zukunft ihres Kindes keine Lösung wäre. Er wendet sich also Hagar persönlich zu und gibt für ihren Sohn, Ismael (=“Gott hat gehört“) eine Verheißung. In der Bibel ist dies übrigens die erste Geschichte, in der Gott seinen Boten zu einer Frau schickt und ihr eine Verheißung gibt! Die Reaktion der Hagar ist ein Bekenntnis: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Sie fühlt sich in ihrer Situation wahrgenommen, sie wird einen Sohn gebären, der Ismael heißen und ein legitimer Sohn Abrams/Abrahams sein wird – und der Urvater der Araber, so wie der Sohn Isaak, den Sara schließlich doch noch gebären wird, als Urvater der Juden gilt. Hier wird in einer Familiengeschichte also auch das Verhältnis zweier Völker geschildert. Und wenn die Verheißung für Hagar lautet (1. Mose 16, 11-12): »Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael, ›Gott hat gehört‹, nennen. Denn der HERR hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast. Dein Sohn wird heimatlos sein wie ein Wildesel. Er wird mit allen im Streit liegen und getrennt von seinen Brüdern wohnen.«, dann wird die spätere Geschichte von Juden und Arabern in diese Geschichte hineingenommen.

Was die Geschichte aber für die Jahreslosung deutlich macht, es geht nicht um allgemeine Aussagen, wie Gott ist, die ich dann zu glauben habe, sondern es geht um eine Geschichte, in der eine Frau, die Objekt der Wünsche anderer war und nicht gefragt wurde, nicht gesehen wurde als eigene Person, von Gott durch den Engel/Boten angesprochen, persönlich gesehen und ernst genommen wird, einen Weg zurück findet und eine Zukunftsperspektive bekommt, auch wenn das bedeutet, erst einmal in eine schwierige Situation zurückzukehren. Auch ein Engel schnipst nicht mit den Fingern und macht alles plötzlich anders! Aber er verändert die Situation, indem ich mich wieder gesehen fühle, als Person wahrgenommen fühle, und das eine solche Veränderung bedeutet, das ich mich neu der Situation stellen kann, vor der ich vorher nur geflohen bin. Denn jetzt habe ich in dieser Situation einen Weg für mich gefunden und die Erfahrung gemacht, Gott sieht mich, nimmt mich wahr, geht mit mir und gibt mir die Kraft für die nächsten Schritte.

Unsere Jahreslosung ist also kein Dogma, sondern eine Erfahrung mit Gott, die das eigene Leben verändert und dadurch ihre Kraft und Bedeutung gewinnt für die anderen Geschichten, die noch vor einem liegen, auf dem Weg durch die Zeit, und auch auf dem Weg durch dieses Neue Jahr 2023!

Mögt Ihr / mögen Sie das erleben im Neuen Jahr – angesehen sein!

Ihr/Euer Pastor Schnoor