Liebe Leserinnen und Leser

Das Mittelalter hat ja einen schlechten Ruf (seit der Aufklärung). Es sei „dunkel“ gewesen, rückständig, voller Aberglauben und „Pfaffentyrannei“! Mal abgesehen davon, dass die Aufklärung einen dunklen Hintergrund brauchte, von dem sie sich mit ihrer Beschränkung der Wirklichkeit auf den Bereich des (natur-)wissenschaftlich Beweisbaren hell-strahlend abgrenzen konnte, ist das Mittelalter neben allem Negativen so einseitig dunkel nicht gewesen. Es gab mehr Wissenschaft als man oft meint, und die Gebildeten waren auch zur Zeit Christoph Columbus längst nicht mehr davon überzeugt, die Erde sei eine Scheibe!

Aber Wahrheiten wurden nicht allein auf wissenschaftliche Versuche und Ableitungen beschränkt, sondern, gerade den Menschen, die noch nicht an einem Bildungssystem teilnehmen konnten – und das ist tatsächlich in meinen Augen der größte Fortschritt der Neuzeit! – wurden Geschichten etwa von Heiligen erzählt, Legenden, die Vorbildcharakter haben sollten. Manche dieser Legenden tragen einen historischen Kern in sich, manche sind Produkt einer Phantasie gewesen, die bestimmte Geschichten einem/einer Heiligen zutrauten, weil sie zum Auftreten dieses Menschen passten.

Eine ganz spezielle Legende wurde etwa dem Heiligen Franziskus von Assisi zugeschrieben, die sog. „Vogelpredigt“:

„Als er sich Bevagna näherte, kam er zu einem Ort, an dem eine große Menge von Vöglein verschiedener Art zusammengekommen war: als der Heilige Gottes dieselben sah, lief er eilig dahin und begrüßte sie, als wären sie der Vernunft teilhaftig. Sie aber alle erwarteten ihn und wandten sich zu ihm, so dass die, welche auf den Gesträuchen waren, die Köpfchen senkten, als er sich ihnen näherte, und in ungewohnter Weise sich nach ihm hinrichteten, bis er zu ihnen heranschritt und sie alle eifrig ermahnte, das Wort Gottes zu hören, indem er sprach: »Meine Brüder Vöglein, gar sehr müsst ihr euren Schöpfer loben, der euch mit Federn bekleidet und die Flügel zum Fliegen gegeben hat; die klare Luft wies er euch zu und regiert euch, ohne dass ihr euch zu sorgen braucht«. Als er ihnen aber dies und ähnliches sagte, begannen die Vögel, in wunderbarer Weise ihre Freude bezeugend, die Hälse zu recken, die Flügel auszubreiten, die Schnäbel zu öffnen und aufmerksam auf ihn zu schauen. Er selbst aber in wunderbarer Glut des Geistes schritt mitten durch sie hin und berührte sie mit seinem Gewande; und dennoch bewegte sich keiner von der Stelle, bis er das Zeichen des Kreuzes machte und ihnen mit dem Segen des Herrn die Erlaubnis gab. Da flogen sie alle zugleich von dannen. Dies alles sahen die Genossen, die am Wege warteten.“ (Text aus: Artikel „Vogelpredigt“ bei Wikipedia)

Man kann natürlich eine Haltung einnehmen, der gute Franziskus sei wohl etwas geistesgestört oder mindestens grenzenlos naiv, wenn er glaube, Vögeln predigen zu können. Sehr viel näher kommt mir allerdings der Gedanke, dass in dieser „Vogel- oder auch Tierpredigt“ deutlich wird, dass christliche Botschaft und christlicher Glaube nicht nur mit dem Menschen zu tun haben, gar nur mit dem Einzelmenschen und seiner Seele, sondern dass sie es mit der ganzen Schöpfung zu tun haben. Die Predigt des Hl. Franziskus ist dann nur ein Bild für diesen Gedanken der Hinwendung des Menschen zur Schöpfung, hier zur Tierwelt. Was würde es eigentlich bedeuten, wenn wir Tiere nicht nur wechselseitig als Wirtschaftsgüter (Nutztiere!), als Kinderersatz (Haustiere wie Hunde oder Katzen), als Schädlinge (alles, was etwa die Landwirtschaft stört, bedroht) oder Feinde (Bakterien und Viren) usw. betrachteten, also nur aus unserer Perspektive unter den Kategorien Nutzen oder Schaden, sondern als Mitgeschöpfe? Abert Schweizer hat etwa in diese Richtung gedacht. Und in der franziskanischen Tradition gibt es mindestens einen Text, der auch in diese Richtung wirkte:

Der Sonnengesang(Aus: Dieter Berg, Leonhard Lehmann (Hg.), „Franziskus-Quellen“
© 2009 Edition Coelde in der Butzon & Bercker GmbH)

Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.

Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne,
welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest. Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz: Von dir, Höchster, ein Sinnbild.

Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne; am Himmel hast du sie gebildet, klar und kostbar und schön.

Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken
und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst.

Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser, gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.

Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer, durch das du die Nacht erleuchtest; und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.

Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.

Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Drangsal. Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.

Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod; ihm kann kein Mensch lebend entrinnen. Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben. Selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.

Lobt und preist meinen Herrn und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut.

Aber nicht nur Franziskus und die ihm folgende Tradition haben in dieser Richtung gedacht (im „Mittelalter“), sondern schon beim Apostel Paulus klingen Gedanken in dieser Richtung an, wenn auch im Zusammenhang der Vergänglichkeit (Römerbrief im 8. Kapitel):

22 Wir wissen ja: Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. 23 Und nicht nur sie: Uns geht es genauso! Wir haben zwar schon als Vorschuss den Geist Gottes empfangen. Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern. Denn wir warten ebenso darauf, dass Gott uns endgültig als seine Kinder annimmt.

Ich habe keine endgültige Antwort, aber ich glaube, wir Menschen werden nur eine Zukunft als Teil der Schöpfung haben. Und wer sich eine wunderbare Darstellung der „Vogelpredigt“ einmal ansehen möchte, der sollte den Naumburger Dom besuchen!

“Tierpredigt” de Hl. Franziskus als Handlauf auf der rechten Seite des Aufgangs zum Hochchor im Naumburger Dom. Foto Frank Schnoor

Ihr/Euer Pastor Schnoor