Liebe Leserinnen und Leser

Viele von Ihnen/Euch kennen den Spruch zur Begrüßung: „Na, alles gut?“ Und die erwartete Antwort lautet natürlich: „(Ja,) alles gut!“ eventuell noch erweitert um die Gegenfrage: „Und bei dir?“

Ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen oder Euch mit dieser Art der Begrüßung geht!? Ich jedenfalls verweigere mich hartnäckig diesem Ablauf. Meine Antwort darauf ist stets „NEIN!“ Und je nach Tagesform oder innerem Zustand erweitere ich dieses „NEIN!“ noch mit einem „Sonst wäre ich ja schon im Reich Gottes!“ oder einem „Aber der Prozentsatz ist so weit in Ordnung!“ Alternativ wäre auch noch die Reaktion möglich: „Danke, ich kann nicht klagen!“ Aber damit habe ich auch wieder ein Problem. Ich habe zu viel Phantasie, und es fällt mir meist doch etwas zum Klagen ein – zum Danken allerdings auch, Gott sei Dank!

Mit anderen Worten: Diese Begrüßungsphrasen, die überhaupt nicht wissen wollen, wie es mir wirklich geht, sondern einfach nur sozialen Kontakt aufnehmen, erwischen mich auf dem falschen Fuß, indem ich sie wörtlich nehme. Ich frage mich manchmal, warum ich nicht auch einfach auf der Smalltalk-Ebene einsteige und das Erwartete von mir gebe? Könnte es sein, dass es mir so geht, wie einem der Bergsteiger in der folgenden kleinen Geschichte?

Zweierlei Sichten (Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten 10, Matthias Grünewald Vgl. Ostfildern 2014, Nr. 129)

Papst Johannes Paul I. hat einmal von zwei Bergsteigern berichtet: Beide klettern auf einen Berg …

Zurückgekehrt sagt der Erste: »Was ich gesehen habe? Oh, nichts Besonde­res: ein paar Seile, Bäume, Wasser, Wiesen, einen Haufen Himmel — sonst nichts«, und er gähnt.

Der Zweite sagt: )>Was ich gesehen habe, das werde ich nie mehr vergessen: Felsen und wieder Felsen, Wiesen und Wasser, die Sonne und das Blau des Himmels und alles voller Wunder.«

Und während er so spricht, sieht er so aus, als ob große Wunder immer noch aus seinem Gesicht und seinem Herzen leuchten.

Beide Bergsteiger sehen in etwa das Gleiche oder doch eigentlich ähnliches, und doch sehen sie in Wahrheit ganz Verschiedenes, weil das, was sie sehen für sie eine ganz unterschiedliche Bedeutung hat. Für den ersten Bergsteiger ist alles, was er sieht banal („Schon tausendmal gesehen“!), der zweite lässt sich davon bezaubern, als habe er Felsen, Wiesen, Wasser, Sonne und das Blau des Himmels zum allerersten Mal so gesehen.

Was heißt das eigentlich für mich, wenn ich auf die Frage „Na, alles gut?“ nicht mindestens mit „JA!“ beantworten kann oder gar mit einem „DAS LEBEN IST HERRLICH!“ ?

Offensichtlich, dass auch ich immer wieder der Tendenz erliege, Gutes für selbstverständlich zu nehmen und mich dann viel zu sehr an dem Negativen aufzuhalten, das ich selbstverständlich nie für selbstverständlich nehme. Ich will jetzt gar nicht klagen, dass die Medien mit ihrer Art, sich auf negative Nachrichten zu konzentrieren, diesen Trend noch verstärken – im Grunde brauche ich die Medien nicht, ich schaffe es auch allein, mich selbst runter zu ziehen, weil mich das Negative viel mehr bewegt als das Positive und Schöne. Darum brauche ich auch immer wieder Menschen oder Geschichten, die mich erinnern, das es anders sein sollte, wie etwa die folgende:

Lechaim!  von Rachel Naomi Remen in:(Dörte Fuchs/Jutta Orth (Hg.), Glück ist gar nicht mal so selten. Ein Vorlesebuch, Kaufmann Vlg, Lahr 2014, 58-61)

Vor vielen Jahren schenkte mein Großvater mir ei­nen silbernen Weinpokal; er war so klein, dass er nicht mehr als einen Fingerhut voll Wein aufnahm. In den Kelch war in feiner Gravur ein Bogen, an dem lange Bänder flatterten, eingraviert. Dieser Kelch war vor langer Zeit in Russland hergestellt worden. Er gab ihn mir an einem jener vielen Nach­mittage, an denen wir zusammen am Küchentisch in der Wohnung meiner Eltern saßen, Sätze aus seinen alten Büchern auswendig lernten und über die Natur des Lebens diskutierten. Ich war damals noch sehr jung, nicht älter als fünf oder sechs Jahre, und wenn ich begann, zappelig zu werden, dann verstand er meine Aufmerksamkeit wieder zu fes­seln, indem er den sakramentalen Concord-Traubenwein herausholte, den er hinten im Kühlschrank aufbewahrte. Dann füllte er meinen ziselierten Po­kal mit Manischevitz und gab einen Schuss Wein in seinen eigenen Pokal, einen großen silbernen Zeremonialkelch, der schon Generationen alt war.

Wir brachten dann zusammen einen Trinkspruch aus. Bis dahin war die einzige andere Feier, die ich kannte, das Singen von „Happy Birthday” und das Ausblasen der Kerzen. Aber dies gefiel mir noch besser. Mein Großvater hatte mir den Trinkspruch bei­gebracht, den wir verwendeten. Er bestand aus einem einzigen hebräischen Wort, Lechaim!, was, wie er mir sagte, „Auf das Leben!” bedeutet. Er sprach es immer mit großem Enthusiasmus aus. „Heißt das, auf ein glückliches Leben, Opa?”, frag­te ich ihn einmal. Er schüttelte verneinend den Kopf: „Einfach nur  ,Auf das Leben!`, Nesuhumele.”

Zuerst machte mir das nicht viel Sinn, und ich rang darum, den Sinn zu verstehen. „Ist das viel­leicht wie ein Gebet?”, fragte ich unsicher. „Aber nein, Neshumele”, antwortete er. „Wir beten um Dinge, die wir nicht haben. Das Leben haben wir ja schon.”

„Aber warum sagen wir dies dann, bevor wir Wein trinken?”, bohrte ich weiter. Er lächelte mich vergnügt an. „Großvater!”, sagte ich, plötzlich misstrauisch geworden. „Hast du dir das ausge­dacht?” Er lächelte wieder und versicherte mir, er habe es nicht. Seit Tausenden von Jahren hätten Menschen auf der ganzen Welt das zueinander ge­sagt, bevor sie Wein tranken. Es sei eine jüdische Tradition.

Ich dachte eine Zeitlang darüber nach. „Steht es in der Bibel geschrieben, Opa?”, fragte ich schließ­lich. „Nein, Neshumele”, entgegnete er, „es steht im Herzen der Menschen geschrieben.” Als er mei­nen verwirrten Gesichtsausdruck sah, sagte er mir, Lechaim! bedeute, dass das Leben heilig und des Feierns wert sei, ganz gleich, welche Schwierigkei­ten es uns bringe, ganz gleich, wie schwer oder schmerzvoll oder unfair es sein möge. „Deshalb ist auch der Wein süß — um uns daran zu erinnern, dass das Leben an sich ein Segen ist.”

Es ist fast fünfundfünfzig Jahre her, dass ich meinen Großvater zuletzt habe sprechen hören, aber ich erinnere mich noch sehr gut an die Freude, mit der er den Trinkspruch auf das Leben aus­brachte, und an das Blinken in seinen Augen, mit dem er Lechaim! sagte. Ich habe es immer für be­sonders bemerkenswert gehalten, dass ein Volk, für welches das Leben nicht gerade leicht gewesen ist, über Generationen gerade diesen Trinkspruch aus­gebracht hat. Aber vielleicht kann er nur von einem solchen Volk ausgebracht werden, und nur jene, die wirklichen Verlust erlitten und die sehr gelitten ha­ben, können seine Macht verstehen.

Lechaim! ist eine Weise, das Leben zu leben. Je älter ich wurde, desto weniger schien es mir bei dem Spruch um das Feiern des Lebens zu gehen, sondern immer mehr um die Weisheit, sich für das Leben zu entscheiden. In den vielen Jahren, in de­nen ich nun an Krebs erkrankte Menschen beraten habe, habe ich immer wieder Menschen sich für das Leben entscheiden sehen, trotz Verlust und Schmerz und Schwierigkeiten. Die gleiche, nicht zum Schweigen zu bringende Freude, die ich in den Au­gen meines Großvaters gesehen habe, ist auch in all diesen Menschen.

Das ist doch wunderbar! Eine Woche in diesem Geist wünsche ich Ihnen, Euch und mir!

Ihr/Euer Pastor Schnoor