Liebe Leserinnen und Leser

Es gibt so einige Themen, die tauchen immer wieder in mir auf. Eines dieser Themen hat sich schon vor vielen Jahren durch einen Text von Dietrich Bonhoeffer aus „Widerstand und Ergebung“ mit meiner Biografie und Selbstbetrachtung verbunden: „Wer bin ich eigentlich?“ Bonhoeffer hat dazu geschrieben:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge. Ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und zu leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
 Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Nicht, dass ich das Kaliber Dietrich Bonhoeffers hätte, davon bin ich weit entfernt in mehrfacher Hinsicht, aber dass ich mich selbst anders und oft deutlich kritischer wahrnehme, als viele andere Menschen dies tun, darin sehe ich Ähnlichkeiten.

Und dann ist mir in dieser Woche eine wunderbare Bildbetrachtung in die Hand gefallen, die ich mit Ihnen und Euch teilen möchte:

(Ralf Drewes, Werkstatt für Liturgie und Predigt, Juli/August 2023, Seite 195-196)

Wie Zuspruch gelingt

Von der Größe und der Kleinheit des Menschen

 1

Traue keinem Menschen, der dich über den grünen Klee lobt! Sei skeptisch, wenn jemand dich nur bejubelt. „Alle Loblieder enthalten eine Beimischung Opium.“ Das sagt ein berühmter irischer Aufklärer (es war Jonathan Swift – der mit „Gullivers Reisen“). Jeder von uns hört gerne von anderen Zuspruch und Bestätigung. Aber – wie das Lob – es kann einen auch benebeln. Dann doch lieber einen irischen Schnaps. Und innerlich drei Schritte zurückgehen, wenn jemand standardmäßig zu dir sagt: Alles wird gut! Denn du weißt, hinter allen großen Worten lauert die noch größere Wirklichkeit.

 2 

Deshalb: Mach es doch wie Rabbi Bunam! Das war ein jüdischer Gelehrter, er lebte vor 250 Jahren in Polen und war zu seiner Zeit eine Berühmtheit. Rabbi Bunam sagte zu seinen Schülern: „Jeder von euch muss zwei Taschen in der Kleidung haben, um nach Bedarf in die eine oder andere greifen zu können: In der einen Tasche liegt ein Zettel mit dem Wort: ‘Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden’, und in der anderen Tasche liegt ein Zettel mit dem Wort: ‘Ich bin Erde und Asche.’“ Und beide Sätze sind wahr. Wenn ich nur dem Zettel in der einen Tasche glaube, werde ich hilflos und todtraurig. Wenn ich nur dem in der anderen Tasche glaube, werde ich hochmütig und arrogant. Nur zusammen, wenn in meinen beiden Taschen ein solcher Zettel liegt, nur zusammen sind die Sätze wahr und eine kostbare Hilfe im Leben. Mal ergreife den einen, mal den anderen Zettel!

 3 

Kluger Rabbi Bunam! Wie es wohl wäre, diese Zettel, wie sie hier vor mir liegen, abzureißen und tatsächlich in die Taschen zu stecken? Komm, lass uns das jetzt einfach mal machen. Auseinanderreißen! Noch einmal gut einprägen. Schau den einen Zettel an: „Ich bin Erde und Asche“. … Und nun den anderen anschauen: „Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden“. … Und jeweils ab damit in meine beiden Hosentaschen oder Jackentaschen.

Ein Zettel ist in der rechten, ein Zettel in der linken Tasche. Halt mal die Hand drauf. Weißt du noch, welcher Zettel in welcher Tasche liegt? Du kannst sie nicht mehr sehen, aber sie sind da. Mal konzentriert hinspüren: Scheinen dir beide Zettel gleich zu sein? Welcher Satz wiegt momentan, also jetzt zur Stunde, schwerer für dich? … Welcher Zettel brennt in seiner Tasche? … Welcher ist kalt? … Welcher dieser Zettel rüttelt dich auf? … Welcher macht dir eine Einladung? Wozu genau?

 4 

Beide Sätze auf den Zetteln sind extrem. Der eine lobt dich in den Himmel. Der andere zieht dich in die Hölle. Eigentlich ist das kaum erträglich. Menschen, die nur einem der Zettel folgen, werden kaum froh im Leben werden. Aber Menschen, die immer wieder beiden der Sätze folgen, haben eine Chance dazu. Das sagt jedenfalls Rabbi Bunam. Wenn er an die zwei Taschen erinnert, dann möchte er, dass der Mensch seine Möglichkeiten wahrnimmt, sich aber auch seiner Grenzen bewusst ist. Er möchte den Menschen schützen vor Ohnmachtsgefühlen und vor Größenwahn. Der Rabbi möchte seinen Schülern bewusst machen: Dir wird viel Schönes geschenkt und unverdient in den Schoß gelegt, damit du lebensfroh werden kannst. Aber hüte dich davor, die leidvolle Wirklichkeit und deine eigenen Grenzen auszublenden. Bunam sagt nicht: Das mit den Zetteln wird dir immer gelingen. Aber er sagt: Du kannst jeden Tag üben. Alles, was du brauchst, sind zwei Taschen.

Ich habe mir für die Ferienzeit vorgenommen, der Frage nach dem, wer ich denn bin mit diesem Ratschlag des Rabbi Bunam und den zwei Zetteln nachzuspüren. Mal schauen, was dabei herauskommt. Vielleicht habe ich Ihnen und Euch ja auch ein bisschen Lust auf dieses Experiment der Selbsterkenntnis gemacht. Und selbst wenn nicht: Schöne Ferien!

Ihr/Euer Pastor Schnoor