Liebe Leserinnen und Leser

Am 1. Oktober Erntedank, am 3. Oktober „Tag der Deutschen Einheit“. Es sind zwei Termine in dieser Woche, bei denen es thematisch um Dankbarkeit geht. Um die Dankbarkeit dafür soll es gehen, dass es auch in diesem Jahr genug gab, um leben zu können und um die Dankbarkeit dafür, dass 1989/90 die Möglichkeit ergriffen wurde, eine Konsequenz des von Deutschland ausgegangenen 2. Weltkriegs und des ihm folgenden „Kalten Krieges“ zu korrigieren – die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten zu beenden. Aber so wenig bei uns automatisch der Dank für die vielfältigen „Ernten“ des vergangenen Jahres vorhanden ist, die eingebracht werden konnten, so sehr ist der „Tag der Deutschen Einheit“ mehr als einfach ein Tag der staatsrechtlichen Vereinigung von zwei Deutschen Staaten zu einem vor 33 Jahren, sondern eine bleibende Aufgabe, der inneren Vereinigung von Menschen, die von unterschiedlichen Systemen in ihrer Biographie geprägt wurden. Das gilt für die Menschen, die in BRD und DDR sozialisiert wurden, aber es gilt auch für diejenigen, die selbst diese beiden Staaten nicht mehr erfahren haben, sondern im „Vereinten Deutschland“ aufgewachsen sind. Denn sie haben ihre Prägungen mindestens zum Teil durch Ihre Familien und deren Erfahrungen in den Umbrüchen der Zeit erhalten. Was erlebte man als wertschätzend, was als abwertend, was löste Zufriedenheit aus und was nicht? Wie weit erlebten sich Menschen in der Weise, dass sie ihr Leben gestalten konnten, und wo erlebten sie sich nur als Objekte, die die Entscheidungen Anderer erdulden und tragen mussten, ohne wirklich gefragt worden zu sein, ohne wirklich eine Alternative gehabt zu haben. Und dann fangen manche an, zu glauben, dass dort, wo „Alternative“ draufsteht, auch eine wirkliche Alternative drin sei und nicht nur das Gerede von Menschen, die den eigenen Vorteil davon erhoffen, dass sie alle realistischen Lösungsansätze ablehnen und sich auf Trotzreaktionen ala „das will ich aber nicht!“ versteifen, in der Hoffnung, unzufriedene Menschen bei der nächsten Wahl zu ihren Wählerinnen und Wählern zu machen, ohne dass denen ganz klar wäre, wohin da die Reise gehen wird.

Zu Erntedank hatten wir einen Predigttext, von dem ich denke, dass er nicht speziell mit Landwirtschaft zu tun hat, aber einiges mit unserer heutigen gesellschaftlichen Situation.

Der Predigttext steht im Lukas-Evangelium im 12. Kapitel:

 Einer aus der Menge sprach zu Jesus: Lehrer, sag meinem Bruder, er solle das Erbe mit mir teilen. Jesus sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbteiler über euch eingesetzt? Jesus sagte aber zu ihnen: seht zu und hütet euch vor aller Habsucht. Denn niemand, auch wenn er Überfluss hat, hat sein Leben aus seinem Besitz.

Er sprach ein Gleichnis zu ihnen und sagte: das Land eines reichen Menschen hatte gut getragen. Und er dachte bei sich und sprach: was soll ich tun? Ich habe keinen Platz, um meine Früchte zu sammeln. Und er sprach: das werde ich tun: ich werde meine Speicher abreißen und größere bauen, und da will ich all mein Getreide und meine Güter sammeln.
Und ich werde zu meiner Seele sprechen: Seele, du hast viele Güter für viele Jahre bereitliegen. Ruh dich aus, iss, trink, sei fröhlich. Gott aber sprach zu ihm: du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Was du da bereitgelegt hast – wem wird es gehören? So geht es dem, der Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.

 Das Problem des reichen Mannes ist nicht, dass er reich ist. Er machte doch nichts anderes, als was jeder tun würde. Bei Josef in Ägypten, das Alte Testament erzählt von ihm, wird genau das gelobt: Da wurde sieben Jahre lang gesät und geerntet, da wurden Scheunen gebaut, um vorzusorgen für Zeiten der Not. Den drohenden Hunger vor Augen ließ dieser Josef Kornhäuser bauen und sieben Jahre Getreide sammeln (1 Mose 41,35). Am Ende war es Getreide „über die Maßen viel wie Sand am Meer“ (1 Mose 41,49). Die Lutherbibel nennt das in der Überschrift zu dieser Erzählung „Josefs Fürsorge“. Warum sollte das, was der Kornbauer macht, etwas anderes sein, etwas, das man kritisiert und habgierig findet?

Martin Luther King hat in einer Rede, die schon gut 60 Jahre her ist, so über den Kornbauern nachgedacht: „Könnte dieser reiche Mann nicht einfach stellvertretend für die westliche Zivilisation in dieser Geschichte stehen? An Gütern und materiellen Erfolgen sind wir reich. Die Mittel, durch die wir leben, sind in der Tat wunderbar. Und doch fehlt etwas. Wir haben gelernt, wie die Vögel zu fliegen und wie die Fische zu schwimmen. Aber wir haben die einfache Kunst nicht gelernt, als Geschwister zu leben. Unser Überfluss hat uns weder Friede noch Zufriedenheit gebracht.“

Es ist nicht falsch, vorzusorgen. Aber es könnte verführen, mein Herz zu sehr an das zu hängen, was ich an die Seite lege. Das muss man sich in Deutschland besonders sagen lassen. Nirgends sonst auf der Welt wird so viel Geld in Lebensversicherungen gesteckt. Nirgends sonst wird so viel auf Sparbüchern gespart – „sicher ist sicher“. Das alles ist nicht verwerflich, solange die Gewichte richtig verteilt sind, und die Reihenfolge stimmt. Nicht vor Reichtum warnt Jesus seine Jünger damals und uns heute, sondern vor Habgier. Er warnt vor dem falschen Vertrauen auf Sicherheiten, die nicht wirklich Sicherheiten sind.

Am Erntedanktag denken wir an unsere Gaben und Begabungen, die uns gegeben, verliehen, geliehen, geschenkt wurden – über unsere Eltern, Freunde, Kollegen und Andere. Für den christlichen Glauben kommt all das letztlich von Gott. Und IHM danken wir für das, was auf dem Altar liegt, was in uns Menschen angelegt ist, was sich an Gutem in unserer Gesellschaft angesammelt hat.  Wir werden als „reiche Menschen“ angesprochen, deren Lebensfeld Früchte getragen hat.  Das Dilemma des Reichen – und unseres auch! – liegt darin, dass er nicht von Dankbarkeit, sondern von Angst geleitet wird: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“  Aber das wird nicht als Gegenwart erkannt, sondern als etwas, das noch nicht erreicht ist! Die eigentliche Frage, die sich stellt, lautet: Wann, liebe/r Leser/in, bist du eigentlich reich? Wann hat deine Seele Ruh? Wann bist du zufrieden?

An dieser Stelle wäre es gut, sich ein paar Minuten zu nehmen, um darüber nachzudenken, wann bei uns das letzte Mal das Gefühl war, wirklich zufrieden zu sein? Eine ruhige Seele zu haben – und sei es auch nur für einen kurzen Moment? Nehmt Euch dafür einmal etwas Zeit!

Angesichts der Veränderungen und Krisen erleben wir, dass alles, was wir an Sicherheiten und Vorräten jeglicher Art aufgebaut haben, keine echte Sicherheit, keine wirksame Zufriedenheit gibt. Die Geschichte vom reichen Menschen offenbart diesen Zustand und verweist auf Gott.

Wir stehen in der Abhängigkeit von dem, der alles geschaffen hat. Und wir halten diese Restunsicherheit oft nicht aus; genug ist uns oft zu wenig, und wollen diese Versicher-ungslücke durch unser Tun und nach unseren Vorstellungen schließen.

Und so nehmen wir mehr, als die Erde geben kann. Du Narr, du Närrin, du kannst der Erde nicht eine Ressource hinzufügen! Das gilt uns. Und so wollen wir vermeintliche Konkurrenten nicht aufnehmen, aus Angst, sie würden uns etwas wegnehmen. Das gilt auch uns!

Wir danken nicht für das Gute, das nicht selbstverständlich ist – schauen wir doch einmal in die Welt und sehen, es geht noch ganz anders und wahrlich meist nicht besser! Statt Dankbarkeit zu empfinden für die Lebensgrundlagen, die wir haben und die Möglichkeiten, die uns unsere demokratische Gesellschaft gewährt, sind wir oft nur dabei, über alles Mögliche zu meckern, was uns gerade nicht in den Kram passt, anstatt mitzuhelfen, die vorhandenen Defizite zu verbessern. Kleiner Erfahrungshinweis aus der Geschichte: „Mit dem Schaffen von Sündenböcken hat die Verbesserung der Gesellschaft noch nie geklappt!“

Ich wünsche uns offene Augen, ein dankbares Herz und Mut, Wege der Liebe und nicht der Angst zu gehen!

Ihr/Euer Pastor Schnoor